Peter Eötvös

Béla Bartók: 1. Violinkonzert | Peter Eötvös: The Gliding of the Eagle in the Skies | Zoltán Kodály: Psalmus Hungaricus

»Hätte der Herr mir Flügel gegeben, wär ich nimmer hier, wär längst schon entflogen«, heißt es in Zoltán Kodálys »Psalmus Hungaricus«.

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Programm

VILDE FRANG | Violine
ISTVÁN KOVÁCSHÁZI | Tenor
INTERNATIONALE CHORAKADEMIE LÜBECK
PETER EÖTVÖS | Dirigent

Béla Bartók | 1. Violinkonzert
Peter Eötvös | The Gliding of the Eagle in the Skies
Zoltán Kodály | Psalmus Hungaricus

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Genau solche Flügel der Freiheit hatte Peter Eötvös vor Augen, als er sein »The Gliding of the Eagle in the Skies« komponierte. Einen Adler sah er vor sich, »hoch am Himmel gleitend, bewegungslos, mit weit gespannten Schwingen«. Er spürte, so der Komponist, »den endlosen Raum und das Gefühl vollkommener Freiheit«. Zwei Cajones, baskische Kistentrommeln, werden dafür prominent im Orchester platziert, ein Tamburin wird zum wichtigen Element.

Der dritte ungarische Komponist dieses Programms wollte gar nicht so weit hinaus: Béla Bartóks 1. Violinkonzert will nicht mehr sein als ein weit ausschwingendes Liebeslied. »Dieses Werk ist so lebendig, so voller Leidenschaft, so rein und aufrichtig«, schwärmt die Geigerin Vilde Frang. »Der erste Satz ist eine der ehrlichsten Liebeserklärungen überhaupt.«

Béla Bartók (1881-1945)
1. Violinkonzert (1907/08)

DER KOMPONIST

Béla Bartók, 1881 in Nagyszentmiklós/Ungarn (heute Sânnicolau Mare/Rumänien) geboren und 1945 in New York gestorben, ist der bekannteste ungarische Komponist des 20. Jahrhunderts und gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Klassischen Moderne. Zusammen mit seinem Kollegen und Freund Zoltán Kodály widmete er sich seit 1906 intensiv der Volksliedforschung und wurde damit zugleich zum Begründer der Ethnomusikologie in seiner Heimat. Bartók sammelte bei den Magyaren, Slowaken, Rumänen, Ukrainern sowie in Algerien und der Türkei annähernd 10.000 Lieder. Diese Erfahrungen bereicherten seine musikalische Sprache in entscheidendem Maße. Ab etwa 1910 entwickelte er seinen individuellen Stil, der oft hart an die Atonalität grenzt und reich an Dissonanzen ist. Die Einflüsse der Volksmusik zeigen sich dabei u.a. in der geschärften Rhythmik sowie den spezifischen Eigenarten der Bartók'schen Melodik und Harmonik.

1907–1934 wirkte Bartók als Klavierprofessor an der Budapester Musikakademie, wo er zuvor selbst Klavier und Komposition studiert hatte, danach arbeitete er an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Immer wieder schrieb er auch klavierpädagogische Lehrwerke, veröffentlichte gewichtige wissenschaftliche Abhandlungen und hielt Vorträge. Als Komponist sah sich Bartók dabei seit den 1920er Jahren zunehmend schärferer Hetze der rechtsnationalen Presse ausgesetzt, zugleich wuchs seine Anerkennung im Ausland. Bartóks Werke wurden weltweit aufgeführt, Konzertreisen führten den hoch angesehenen Pianisten Bartók durch Europa, Amerika und in die Sowjetunion. 1940 emigrierte er in die USA und begann an der Columbia University New York wissenschaftlich zu arbeiten. Die Jahre im Exil blieben aber unglücklich, geprägt von Heimweh, materiellen Sorgen und gesundheitlichen Problemen. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlag Bartók 1945 einer Leukämie-Erkrankung, nachdem er in einem letzten kreativen Schub einige seiner wichtigsten Kompositionen geschaffen hatte.

DAS WERK

Béla Bartók galt schon zu Studienzeiten an der Budapester Königlichen Musikakademie neben seinem Freund Ernst von Dohnányi als das herausragende musikalische Talent Ungarns. Vor allem als Pianist machte er schon früh auf sich aufmerksam, doch auch als Komponist in der Nachfolge Richard Strauss' und Franz Liszts gab er schon als junger Mann erste vielversprechende Visitenkarten ab. Bereits im Alter von 26 Jahren erhielt Bartók an der Akademie als Nachfolger seines eigenen Lehrers eine Klavierprofessur. Hier lernte er nur wenige Monate zuvor bei einem Hochschulkonzert auch die hochtalentierte 18-jährige Violinstudentin Stefi Geyer kennen, die ihn mit ihrem Spiel wie mit ihrem Wesen schon bald gefangen nahm. Nach einem gemeinsam in der ungarischen Provinz verbrachten Sommerurlaub im Jahre 1907 begann Bartók für die geliebte junge Frau ein Violinkonzert zu schreiben. 

Ursprünglich sollte das Werk drei Sätze umfassen, doch während des Kompositionsprozesses kam es von Seiten der Geigerin zu einer merklichen Abkühlung der Beziehung und Anfang 1908 schließlich zum endgültigen Bruch. So blieb es bei den bis dahin fertiggestellten beiden Sätzen: Den ersten konzipierte Bartók als »ein musikalisches Porträt der idealisierten Stefi Geyer, entrückt und intim«, den zweiten als ein Abbild der »temperamentvollen Stefi Geyer, lustig, geistreich und unterhaltsam«. Der dritte Satz hätte nun »die gleichgültige, kühle und stumme Stefi Geyer« darstellen sollen, und das wäre »eine hassenswerte Musik« gewesen (die Bartók dann einige Wochen später als das letzte Stück seiner 14 Bagatellen op. 6 für Klavier schrieb). Die Widmungsträgerin bewahrte das ihr überlassene Manuskript des 1. Violinkonzerts bis zu ihrem Tode 1956 auf; zwei Jahre später wurde das Werk – wie in ihrem Testament verfügt – unter Paul Sacher in Basel uraufgeführt. Den ersten Satz hatte Bartók allerdings unter dem Titel Ein Ideal schon kurz nach der Entstehung des Konzerts als das erste der Zwei Porträts op. 5 in fast unveränderter Gestalt wiederverwendet und 1911 zum ersten Mal aufführen lassen.

Die beiden Sätze des 1. Violinkonzerts sind, wie es schon Bartóks Charakterisierung ahnen lässt, von denkbar gegensätzlichem Charakter. Das Andante sostenuto ist ein einziger großer, sehnsuchtsvoller Seufzer, ein in dieser Form fast einmaliges Beispiel für eine speziell Bartók’sche Spielart von Romantik. »Der erste Satz ist mein Liebesgeständnis an Sie«, schrieb er an die angebetete Kollegin und ließ das Stück mit einer nicht enden wollenden, schwärmerischen Melodie des Soloinstruments beginnen. Erst nach und nach, ganz vorsichtig gesellen sich die einzelnen Instrumente mit imitatorischen Einsätzen hinzu. Zentrale Bedeutung kommt dem gleich zu Beginn vorgestellten »Stefi-Leitmotiv« zu, einer Folge von drei aufsteigenden Terzen, die zusammen eine spannungsvolle große Septime ergeben. Diese Figur und damit seine gescheiterte Beziehung zur Geigerin sollte Bartók auch in einigen anderen Werken jener Schaffensperiode verarbeiten, so etwa im 1. Streichquartett op. 7 oder in den Zwei Elegien op. 8b. Von gleichmäßigen Pauken-Schlägen angekündigt, gehört der etwas raschere Mittelteil des Satzes dagegen zunächst allein dem Orchester; später setzt der Solist wiederum mit dem »Stefi-Motiv« ein und variiert es in immer höheren Lagen. Nach einem plötzlichen Innehalten auf einer Fermate folgt der dritte Abschnitt im ursprünglichen Tempo. Bartók transzendiert hier sein Liebesmotto in den silbrig glänzenden und von zwei Harfen grundierten Höhen der Geige, während die Orchesterbegleitung allmählich abebbt und die Musik auf einem D-Dur-Akkord verhaucht.

Wesentlich zerklüfteter, vielgestaltiger auch in seinen Stimmungswechseln zeigt sich der zweite und abschließende Satz des 1. Violinkonzertes. Dieses Allegro giocoso, das von der für Bartók charakteristischen rhythmischen Prägnanz gekennzeichnet ist, wurde als ein Sonatenhauptsatz mit drei zentralen thematischen Gedanken entworfen. Gerade auch im Hinblick auf die Bogentechnik werden hier an den Solisten höchste Ansprüche gestellt. Passend zum spielerischen, bisweilen kapriziösen Ausdruck des Satzes taucht das »Stefi-Motiv« zunächst auch ausschließlich in ständigen Abwandlungen auf, bevor es unmittelbar vor Schluss in einem plötzlichen Einschub im langsamen Tempo als eine deutliche Reminiszenz im Solo-Horn wieder in seiner Originalgestalt erscheint.

Peter Eötvös (*1944)
The Gliding of the Eagle in the Skies

DER KOMPONIST

Peter Eötvös, geboren 1944 im siebenbürgischen Székelyudvarhely (damals Ungarn, heute Odorheiu Secuiesc/Rumänien), gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musik. Er reüssierte zunächst als Dirigent vornehmlich Neuer Musik, längst ist er aber auch als Komponist und als Dozent weltweit hoch geschätzt. Große Erfolge feiert er insbesondere mit seinen Opern und seinen Orchesterwerken, denen oft ebenfalls szenisch-dramatische Ideen zugrundeliegen.

Nach seinem Kompositions- und Klavierstudium an der Budapester Musikakademie 1958–1965 arbeitete er in Ungarn zunächst als Theater- und Filmkomponist, bevor er 1966 nach Köln übersiedelte, um an der dortigen Musikhochschule Orchesterleitung zu studieren. Peter Eötvös arbeitete ab 1971 sieben Jahre lang im Studio für elektronische Musik des WDR Köln und wirkte 1968–1976 im Ensemble Stockhausen mit. Auf Einladung von Pierre Boulez leitete er 1978 das Konzert zur Eröffnung des Pariser IRCAM, im folgenden Jahr wurde er zum Musikalischen Direktor des Ensemble intercontemporain berufen (bis 1991), mit dem er über 200 Werke zur Uraufführung brachte. Peter Eötvös leitete bereits fast alle führenden Orchester der Welt, darunter die Wiener, Berliner und Münchner Philharmoniker, das Concertgebouw-Orchester Amsterdam oder das Cleveland Orchestra. Er dirigierte zudem u.a. an der Mailänder Scala und an Covent Garden London. Ab den 1990er Jahren entfaltete Peter Eötvös auch eine intensive pädagogische Tätigkeit: 1991 gründete er das International Eötvös Institute in Budapest zur Förderung junger Dirigenten und Komponisten, zudem wirkte er als Professor an den Musikhochschulen Karlsruhe (1992–1998 bzw. 2002–2008) und Köln (1998–2001). Peter Eötvös ist Mitglied mehrerer Kunstakademien und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Frankfurter Musikpreis 2007 und die Goethe-Medaille 2018. Im Rahmen des Projekts »Eötvös hoch 3« arbeitet er in letzter Zeit intensiv mit dem hr-Sinfonieorchester zusammen.

DAS WERK

Zu den zahlreichen außermusikalischen Interessen des mit großem Wissensdrang durch das Leben gehenden Peter Eötvös gehören neben dem Bereich Theater/Literatur/Sprache auch die Erkenntnisse aus den verschiedenen Disziplinen der modernen Naturwissenschaften. Nicht zuletzt die Geheimnisse des Weltraums und die großen Errungenschaften der Menschheit in der Luft- und Raumfahrt faszinieren den ungarischen Komponisten schon seit Kindheitstagen und bilden eine wichtige Inspirationsquelle für sein kreatives Schaffen. Schon als 17-Jähriger wurde er 1961 vom Pionier-Flug Juri Gagarins ins Weltall zu seinem Klavierstück Kosmos angeregt, dem später noch viele weitere Werke mit ähnlichen inhaltlichen Bezügen (etwa Psychokosmos, Seven, Jet Stream oder Multiversum) folgen sollten.

Möglicherweise hängt es also mit Eötvös’ Begeisterung für das Fliegen zusammen, dass in seiner Fantasie unmittelbar eine ganz bestimmte Idee Konturen annahm, als er auf der Suche nach Anregungen für ein neues Orchesterstück im Auftrag des Baskischen Nationalorchesters zu dessen 30. Geburtstag auf ein baskisches Volkslied stieß, das ihm anschließend besonders im Gedächtnis blieb: »Als ich es hörte, sah ich ein Bild vor meinem inneren Auge: einen Adler, hoch am Himmel gleitend, bewegungslos, mit weit gespannten Schwingen. Ich sah den Blick des Adlers, hörte das Rauschen der Flügel im Wind, spürte den endlosen Raum und das Gefühl vollkommener Freiheit«.

Das Gleiten des Adlers in den Lüften – The Gliding of the Eagle in the Skies: Für den geborenen Bühnenkomponisten Eötvös stellte also auch bei der Arbeit an einem reinen Instrumentalwerk einmal mehr das Denken in Bildern und szenischen Situationen den Ausgangspunkt dar, die es dann im Laufe des kreativen Prozesses in suggestive Klanggesten zu übertragen galt. So konkretisiert sich hier etwa die in Eötvös’ Fantasie entstandene Metapher des Schwebens im dreidimensionalen Raum durch das majestätisch langsame Grundtempo, vor allem aber durch die Tatsache, dass der Komponist hier eine besonders breit aufgefächerte Raum-Klang-Konstellation zwischen extrem hohen und extrem tiefen Lagen erkundet.

Das 2011 entstandene, im Jahr darauf in Pamplona vom auftraggebenden Euskadiko Orkestra unter seinem damaligen Chefdirigenten Andrés Orozco-Estrada uraufgeführte und seitdem – wiederum durchaus typisch für Eötvös – noch zweimal revidierte Werk von rund 12 Minuten Länge ist zugleich aber auch eine respektvolle künstlerische Auseinandersetzung mit der reichhaltigen und bis heute sehr lebendigen Musiktradition der Basken.

Diese äußert sich neben melodisch-rhythmischen Allusionen nicht zuletzt in der Orchestrierung von The Gliding of the Eagle in the Skies, welche die besondere Bedeutung der Flöten und der diversen Schlaginstrumente in der baskischen Musik reflektiert. Ein interessantes Detail bildet dabei die Tatsache, dass von den drei Piccoloflöten des Ensembles, deren Klang an die baskische Holzflöte (t)xirula erinnert, zwei von vornherein geringfügig verstimmt werden sollen: Während das 3. Piccolo in der »richtigen« Stimmung spielt, sollen die beiden anderen leicht erhöht bzw. erniedrigt intonieren. Dieser Kunstgriff dürfte dem Zweck gedient haben, die folkloristische Aura des »Originals« mit den Mitteln des modernen Sinfonieorchesters möglichst authentisch nachzuahmen.

»Ich muss gestehen, dass ich nicht viel über baskische Musik wusste, bevor ich den Auftrag … erhielt – nur, dass es in dieser Musik ein erstaunliches Instrument gibt: das baskische Tamburin«, so Peter Eötvös im Rückblick. Neben dieser als tamburo basco oder tambour de basque im Sinfonieorchester ohnehin geläufigen Schellentrommel sowie weiterem Schlagwerk wie Congas, Glockenspiel, Crotales oder Röhrenglocken verwendete der Komponist auch zwei cajóns unterschiedlicher Größe (und damit Tonhöhe). Diese Kistentrommeln stammen ursprünglich aus Peru, finden aber längst weltweit Verwendung, so etwa auch in spanischen Flamenco-Ensembles. Ihre herausgehobene Rolle in The Gliding of the Eagle in the Skies wird zusätzlich durch ihre Positionierung vorne auf der Bühne, direkt zu beiden Seiten des Dirigenten unterstrichen.

Zoltán Kodály (1882-1967)
Psalmus Hungaricus (1923)

DER KOMPONIST

Zoltán Kodály, 1882 im ungarischen Kecskemét geboren und 1967 in Budapest gestorben, gehört zu den wichtigsten Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Gleichermaßen bedeutender Komponist wie Musikpädagoge und Musikethnologe, glaubte er an das bäuerliche Volkslied als Nährboden der ungarischen Kultur und arbeitete zeitlebens an seiner Etablierung auch in der städtischen Hochkultur. Als Forscher sammelte Kodály mit seinem Landsmann und Freund Béla Bartók mehr als 3.500 ungarische Volksweisen und erspürte in ihnen die »Wahrheit« gegenüber den musikalischen Klischees der Wiener und Budapester Operette wie dem volkstümlichen Material vieler ungarischer Tänze und Rhapsodien. Als erfolgreicher Erzieher, der die übliche Unterscheidung von musikalischen und unmusikalischen Kindern vehement bekämpfte, entwickelte er zudem eine vom Singen ausgehende, nach ihm benannte Unterrichtsmethode, die musikpädagogisch weit in die Zukunft wies und noch heute weltweit vielfach Anwendung findet.

In frühen Jahren bereits hatte Kodály mit dem Violinspiel begonnen und war von seinem Vater mit den Grundbegriffen der Musik vertraut gemacht worden. Nach seiner Ausbildung in Budapest, wo er bei Hans Koessler Komposition studiert hatte, begann Kodály 1905 als einer der Ersten mit der wissenschaftlichen Untersuchung der Volksmusik. Er zog dabei über die Dörfer und sammelte folkloristisches Liedgut, das er ab 1906 gemeinsam mit seinem Studienfreund Bartók in mehreren Sammlungen publizierte. Ab 1912 lehrte Kodály schließlich als Professor an der heutigen Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest, wo er sich intensiv auch mit Fragen der musikalischen Ausbildung beschäftigte. 1942 wurde er emeritiert und am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Präsidenten des Ungarischen Kunstrats ernannt. Die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit und das umfassende Wirken seiner einstigen Schüler haben das ungarische Musikleben und das international anerkannt hohe Niveau der ungarischen Musikerziehung dabei bis heute maßgeblich geprägt.

DAS WERK

Es war eher überraschend und in erster Linie wohl auf mangelnde Alternativen zurückzuführen, dass im Jahre 1923 von offizieller Seite ausgerechnet jene drei Komponisten um repräsentative neue Werke zur musikalischen 50-Jahr-Feier der Vereinigung der drei benachbarten Städte Pest, Buda und Óbuda zur ungarischen Hauptstadt Budapest gebeten wurden, die erst wenige Jahre zuvor beim neuen, national-konservativen Regime unter Miklós Horthy aus politischen Gründen in Ungnade gefallen waren: Ernő Dohnányi, Béla Bartók und Zoltán Kodály. Sie hatten während der kurzlebigen kommunistischen Ungarischen Räterepublik 1919 gemeinsam das sogenannte »Musikdirektorium« gebildet.

Für die ungarische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde dieses von Dohnányi dirigierte »außerordentliche Festkonzert der Budapester Philharmonischen Gesellschaft« am 19. November 1923 zu einem Meilenstein, denn die beiden nachmaligen nationalen Musiker-Ikonen Béla Bartók und Zoltán Kodály traten an diesem Abend in ihrem Heimatland erstmals als Komponisten ins Bewusstsein einer wirklich breiten Öffentlichkeit – und das gleich mit beachtlichem Erfolg: Bartók mit seiner Tanz-Suite für Orchester, der damals bereits immerhin 40-jährige Kodály mit der Vertonung einer ungarischen Nachdichtung des 55. Psalms aus dem 16. Jahrhundert für Solo-Tenor, Chor und Orchester.

Die Arbeit an diesem als Psalmus Hungaricus auch rasch über die Landesgrenzen Ungarns hinaus bekannt gewordenen Werk im Sommer 1923 markierte das Ende einer mehrjährigen schöpferischen Lähmung in Kodálys Schaffen. Diese wurde bedingt durch seine Beurlaubung von seinen Posten als Professor und stellvertretender Direktor der Budapester Musikhochschule nach dem Sturz der Räterepublik im August 1919, das folgende langwierige, entwürdigende und zermürbende Disziplinarverfahren und die deprimierende politisch-wirtschaftliche Lage Ungarns nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg (mit Territorialeinbußen von rund zwei Dritteln des ehemaligen Staatsgebiets, einem damit verbundenen Bevölkerungsverlust von 60 %, hohen Reparationsforderungen der Siegermächte konfrontiert sowie unter hoher Inflation und teils gewalttätigen inneren Unruhen leidend). Kodály wurde auch klar, dass er seine umfangreiche und geliebte Tätigkeit als Musikethnologe unter den neuen Bedingungen nicht würde fortsetzen können, waren doch 1920 die ungarischen Provinzen mit dem reichsten volksmusikalischen Schatz den überwiegend feindlich gesinnten Nachbarländern seiner Heimat zugeschlagen worden.

Doch der offizielle Auftrag vom Budapester Stadtrat muss im Komponisten neue Energien freigesetzt haben. Da er im Hinblick auf die Besetzung freie Hand erhielt, entschied sich Kodály, sein erstes großangelegtes vokalsinfonisches Stück zu schreiben – ja, sein erstes Werk unter Verwendung eines Orchesters überhaupt (von einigen Jugendkompositionen abgesehen). Als Vorlage wählte er einen um 1560 entstandenen Text des ebenfalls aus Kodálys Geburtsstadt Kecskemét stammenden Predigers und Dichters Mihály Vég. Dabei handelt es sich um eine freie Paraphrase des 55. Psalms, die in eindringlich-bildgewaltiger Sprache das leidvolle Schicksal eines von Feinden und falschen Freunden Bedrängten sowie dessen Flehen um göttlichen Beistand in der Not zum Thema hat – vor dem im 16. Jahrhundert brennend aktuellen Hintergrund der Besetzung und Verwüstung weiter Teile Ungarns durch die Türken.

Angesichts der Lage seines Landes wie auch seiner persönlichen Situation zu Beginn der 1920er Jahre konnte sich Kodály mit Végs altehrwürdigem ungarischen Text (auf Basis der noch wesentlich älteren alttestamentarischen Vorlage) offenbar bestens identifizieren, und so findet die kraftvoll-archaische Aura des Gedichts ihre unmittelbare Entsprechung in Kodálys beeindruckender Vertonung.

Der Komponist verwendete 17 der 22 Strophen der Textvorlage für seinen Psalmus Hungaricus, wobei die vom Chor vorgetragene Melodie der ersten Strophe im weiteren Verlauf als das Hauptthema einer rondoartig reihend gestalteten formalen Gesamtstruktur mehrfach wiederkehrt – einer Struktur, die zugleich überlagert wird von einer durch deutliche Einschnitte markierten Dreiteiligkeit der Kantate.

Die persönlichsten und handlungsreichsten Passagen vertraute Kodály dem Tenor-Solisten als dem vehement anklagenden und dabei mehrere dramatische Höhepunkte ansteuernden »Erzähler« an. Dieser kann sowohl als die Stimme König Davids (des vermeintlichen Verfassers der ursprünglichen Psalmdichtung), des ihn paraphrasierenden ungarischen Dichters Vég aus dem 16. Jahrhundert als auch Kodálys selbst gehört werden, sodass im Psalmus Hungaricus letztlich drei Zeitebenen – »biblisch«, »historisch« und »aktuell« – auf einmal reflektiert werden. Der Chor setzt hingegen zu Beginn zunächst nur den erzählerischen Rahmen, um im Verlauf des Werkes eine quasi handelnde Rolle einzunehmen: Denn Kodály überträgt am Ende die individuelle Stimme des zu Gott betenden Protagonisten abstrahierend auf die Gesamtheit des leidenden und auf abschließende göttliche Gerechtigkeit hoffenden Volkes.

Adam Gellen

Die Interpreten:

Vilde Frang

wurde 2012 mit dem »Young Artists Award« der Credit Suisse ausgezeichnet, woraufhin sie ihr Debüt mit den Wiener Philharmonikern unter Bernard Haitink beim Lucerne Festival gab. Seitdem spielt sie regelmäßig mit den führenden Orchestern der Welt zusammen, darunter mit dem Philharmonia Orchestra London, den Berliner Philharmonikern, dem Gewandhausorchester Leipzig, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Dallas Symphony, dem Oslo Philharmonic, den Wiener Symphonikern, dem Mahler Chamber Orchestra, den Münchner Philharmonikern und dem Orchestre de Paris. Besonders gerne arbeitete sie mit Dirigenten wie Simon Rattle, Herbert Blomstedt, Vladimir Ashkenazy, Mariss Jansons, Iván Fischer, Vladimir Jurowski, Daniel Harding, Valery Gergiev, David Zinman, Leonard Slatkin, Neeme Järvi, Paavo Järvi, Esa-Pekka Salonen und Yuri Temirkanov zusammen.

Als begeisterte Kammermusikerin ist Vilde Frang regelmäßig bei den Festivals von Salzburg, Verbier, Luzern und Lockenhaus, bei den Londoner »Proms«, beim Rheingau Musik Festival, dem George-Enescu-Festival in Rumänien und beim »Prager Frühling« zu hören.

Vilde Frang ist Exklusivkünstlerin bei Warner Classics. Ihre Aufnahmen haben zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Classic BRIT Award, den Diapason d’Or, den Deutschen Schallplattenpreis sowie den Gramophone Classical Music Award und den »ECHO Klassik« für ihre Einspielung der Violinkonzerte von Korngold und Britten mit dem hr-Sinfonieorchester unter James Gaffigan.

In Norwegen geboren, engagierte Mariss Jansons Vilde Frang bereits mit zwölf Jahren für ihr Debüt mit dem Oslo Philharmonic Orchestra. Sie studierte u.a. in Oslo, bei Kolja Blacher an der Musikhochschule Hamburg und bei Ana Chumachenko an der Kronberg Academy und in München. Außerdem hat sie 2007 als Gewinnerin eines Stipendiums des Borletti-Buitoni-Trusts mit Mitsuko Uchida gearbeitet. Von 2003 bis 2009 war sie Stipendiatin der Anne-Sophie Mutter Stiftung. Sie musiziert auf einer Geige von Jean-Baptiste Vuillaume (1866).

István Kovácsházi

Der ungarische Tenor István Kovácsházi studierte bei Margit Kapossy. In der Saison 1994/95 begann er seine solistische Laufbahn am Csokonai-Theater in Debrecen, bevor er für zwei Spielzeiten ans Budapester Operettentheater engagiert wurde. Ab 1997 war er Ensemblemitglied der Ungarischen Nationaloper Budapest, wo er bereits in jungen Jahren zahlreiche Hauptrollen sang, darunter in Werken von Mozart (Die Zauberflöte, Die Entführung aus dem Serail, Così fan tutte), Verdi (La Traviata, Rigoletto) und Puccini (La Bohème, Tosca, Madama Butterfly). 

Im Jahr 2006 trat er erstmals als Wagner-Sänger in Erscheinung, als er erfolgreich in der Rolle des Walther von Stolzing (Die Meistersinger von Nürnberg) debütierte. 2008 erhielt István Kovácsházi für die gleiche Rolle eine Einladung an das Nationaltheater Mannheim, dessen Mitglied er anschließend bis 2014 war. Dort sang er in zahlreichen weiteren Produktionen, darunter in Richard Wagners Parsifal, Das Rheingold, Lohengrin und Tannhäuser, in Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos und Elektra, in Webers Der Freischütz sowie im französischen Repertoire (Carmen, Samson et Dalila, Les contes d’Hoffmann).

István Kovácsházi erhielt Einladungen zu den Budapester Wagner-Tagen, wo er 2011 unter der Leitung von Ádám Fischer und zwei Jahre später unter Gregory Vajda große Erfolge als Lohengrin feierte. Ebenfalls 2011 gab er sein Debüt als Don José (Carmen) an der Finnischen Nationaloper Helsinki.

Zu den zahlreichen Auszeichnungen, die István Kovácsházi seit 2000 in seiner ungarischen Heimat erhielt, zählen der Franz-Liszt-Preis (2008) und seine Ernennung zum Kammersänger der Ungarischen Nationaloper in der Spielzeit 2014/15.

Internationale Chorakademie Lübeck

Die Internationale Chorakademie Lübeck verbindet alljährlich ausgewählte junge Sängerinnen und Sänger aus vielen Nationen zu einem einzigartigen Vokalensemble. 2002 von ihrem künstlerischen Leiter Rolf Beck gegründet, steht sie seitdem für Chorgesang auf höchstem Niveau mit Energie, Begeisterung und Freude am Singen. Innovative und außergewöhnliche Programme ebenso wie die großen Chorwerke des klassischen Repertoires präsentierte die Chorakademie bisher mit namhaften Orchestern wie den Symphonikern Hamburg, dem Shanghai Symphony Orchestra, dem Hong Kong Philharmonic Orchestra sowie auf Tourneen u.a. nach Japan, China, Brasilien oder Südkorea.

In der vergangenen Saison war das Ensemble nicht nur für Konzerte und eine CD-Einspielung von Wagners Götterdämmerung unter der Leitung von Jaap van Zweden in Hong Kong zu Gast, sondern sang auch bei der Uraufführung der Buddha Passion von Tan Dun im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele mit den Münchner Philharmonikern unter Leitung des Komponisten. Die Chorakademie war ebenso bei der asiatischen Erstaufführung des Werks in Hongkong beteiligt, der im Juni 2019 eine China-Tournee folgt. Die erste eigene CD mit Werken von Brahms, Schumann und Dvořák erschien 2016 bei EUROIMMUN Records.