Gustav Mahler: 1. Sinfonie

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Programm

ALAIN ALTINOGLU | Dirigent

Gustav Mahler | 1. Sinfonie D-Dur

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Der neue Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt Alain Altinoglu im Jungen Konzert mit Gustav Mahlers expressivem sinfonischem Erstling. Man kann sie sich wie archaische Transformers vorstellen, so groß und stark und auch deutlich menschenähnlich: Die Titanen, die Riesen der griechischen Mythologie, ein mächtiges Göttergeschlecht. Der romantische Schriftsteller Jean Paul hat einen Roman »Titan« betitelt, er hat allerdings nichts mit Fantasy zu tun und ist alles andere als ein Marvel-Vorläufer. Diesen Roman-Titel allerdings hat sich Gustav Mahler zeitweise für seine 1. Sinfonie ausgeliehen, als »Titan« ist sie noch heute ein Begriff. Und ein fantastisches Riesenwesen ist diese Sinfonie wirklich geworden, auch wenn diese Parallele so nie beabsichtigt war. »Wie ein Naturlaut« beginnt sie, mit naturhaft-ungeformtem Klangmaterial, die Klarinette lässt einen falschen Kuckucksruf hören, der Solo-Kontrabass stimmt die nach Moll verdrehte Melodie von »Bruder Jakob, schläfst du noch?« an. Vieles läuft bewusst falsch in dieser Sinfonie, vieles will betont irritieren, mehr aber noch überwältigen. Schockiert rieben sich jedenfalls die ersten Hörer die Augen und Ohren: Der Konzertsaal wurde am Uraufführungstag 1889 zum Schlachtfeld, »im Lärm des Parteikampfes war von den komischen Orchesterklängen nichts mehr zu hören«, hieß es. Unter den euphorisch Applaudierenden aber waren, so wurde berichtet, vor allem junge Zuhörer.

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Gustav Mahler (18601911)
1. Sinfonie D-Dur (188488)

DER KOMPONIST

Gustav Mahler, 1860 im böhmischen Kalischt geboren und 1911 in Wien gestorben, hat zeit seines Lebens nach neuen musikalischen Ausdrucksformen gesucht. Getrieben von der Vision, »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen«, steigerte er die Ausdrucksintensität der Musik ins Extreme und setzte sich über alle Konventionen seiner Zeit hinweg. So avancierte Mahler letztlich zum bedeutendsten Sinfoniker seiner Zeit und zu einem der wichtigsten Brückenbauer zur musikalischen Moderne, obwohl er vielfach angegriffen und seine Musik lange missverstanden und verurteilt wurde.

Gleich dreifach heimatlos – als Böhme in Österreich, als Österreicher in Deutschland und als Jude in der Welt –, verhandelte Mahler in seinen Sinfonien alle Widersprüche dieser Welt, und dies in einem Erzählstrom, der in seinen romanhaften Spannungskurven und Zusammenbrüchen den Werken der großen Romanciers der Jahrhundertwende ebenbürtig ist. Die innere Zerrissenheit von Mahlers Musiksprache, die charakteristisch zwischen Poetischem und Banalem, Erhabenem und Trivialem, Tiefempfundenem und Ironischem changiert, wurde allerdings erst 50 Jahre nach seinem Tod richtig verstanden und als bewegendes musikalisches Spiegelbild unserer Gegenwart erkannt.

Im Gegensatz zu seinem schwierigen Stand als Komponist hatte Gustav Mahler als Dirigent zu Lebzeiten eine steile Karriere gemacht: Nach ersten Kapellmeisterjahren in Bad Hall, Laibach, Olmütz, Wien, Kassel und Prag wurde Mahler 1888 Operndirektor in Budapest. Später wirkte er als Chefdirigent in Hamburg und wurde 1897 zum Direktor der Wiener Hofoper berufen – zum »Gott der südlichen Zonen«, wie er es selbst einmal nannte. Ab 1907 bis zu seinem Tod 1911 sollte Mahler dann schließlich auch noch in der Neuen Welt Erfolge feiern: als Musikalischer Leiter der berühmten New Yorker »Met« sowie der Konzerte der New York Philharmonic Society.

DAS WERK

Gustav Mahler vollendete seine 1. Sinfonie im Alter von 28 Jahren, zu einer Zeit, in der er Dirigent am Stadttheater in Leipzig war. Als der junge Komponist seinen sinfonischen Erstling 1889 zur Uraufführung brachte, war er bereits zum Direktor des Budapester Opernhauses avanciert. Im Programmheft des Budapester Konzerts kündigte man die Komposition damals als »Sinfonische Dichtung in zwei Teilen« an, und sie war zunächst fünfsätzig.

Publikum und Presse in der ungarischen Hauptstadt reagierten allerdings ablehnend. Mahler musste sich mit seinen Vorstellungen und Ideen gänzlich unverstanden fühlen. Für die nächsten Aufführungen der Sinfonie verfasste er daher ein erläuterndes Programm und gab ihr in Anlehnung an Jean Pauls gleichnamigen Roman den Titel »Der Titan«:

I. Teil: Aus den Tagen der Jugend – Blumen-, Frucht- und Dornenstücke. 1. Frühling und kein Ende. Die Einleitung schildert das Erwachen der Natur am frühesten Morgen. 2. Bluminenkapitel (Andante). 3. Mit vollen Segeln (Scherzo).

II. Teil: Commedia umana. 4. Gestrandet. Ein Totenmarsch in Callots Manier. Zur Erklärung diene, wenn notwendig, Folgendes: Die äußere Anregung zu diesem Meisterstück erhielt der Autor durch das in Süddeutschland allen Kindern wohlbekannte parodistische Bild »Des Jägers Leichenbegängnis« aus einem alten Kindermärchenbuch: Die Tiere des Waldes geleiten den Sarg des verstorbenen Försters zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Kapelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musizierenden Katzen, Unken, Krähen, und andere vierbeinige und gefiederte Tiere des Waldes geleiten in possierlicher Stellung den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als Ausdruck einer bald ironisch, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht, auf welche dann sogleich 5. D'all inferno al Paradiso (Allegro furioso) folgt, als der plötzliche Ausdruck eines im Tiefsten verwundeten Herzens.

Die programmatischen Erläuterungen Mahlers erleichterten das Verständnis des Werkes allerdings auch nicht. Im Gegenteil, Mahler musste miterleben, dass das Publikum auf »falsche Wege« geriet, und so verwarf er letztlich das Programm der Sinfonie wieder. Zugleich strich er den ursprünglichen zweiten Satz (Bluminenkapitel) ersatzlos aus der Partitur; und in der nun viersätzigen Fassung ging die 1. Sinfonie 1899 dann auch in den Druck.

Mahler begründete 1896 in einem Brief an den Berliner Musikkritiker und Komponisten Max Marschalk seinen Verzicht auf das Programm: »Mit dem Titel und dem Programm hat es seine Richtigkeit; d.h. seinerzeit bewogen mich Freunde, um das Verständnis der D-Dur zu erleichtern, eine Art Programm hierzu zu liefern. Ich hatte also nachträglich mir diese Titel und Erklärungen ausgesonnen. Dass ich sie diesmal wegließ, hat nicht nur darin seinen Grund, dass ich sie dadurch für durchaus nicht erschöpfend – ja nicht einmal zutreffend charakterisiert glaube, sondern, weil ich es erlebt habe, auf welch falsche Wege hierdurch das Publikum geriet. So ist es aber mit jedem Programm! Glauben Sie mir es, auch die Beethoven'schen Sinfonien haben ihr inneres Programm, und mit der genaueren

Bekanntschaft mit einem solchen Werk wächst auch das Verständnis für der Ideen richtigen Empfindungsgang. So wird es endlich auch mit meinen Werken sein. – Beim 3. Satz (Marcia funebre) verhält es sich allerdings so, dass ich die äußere Anregung dazu durch das bekannte Kinderbild erhielt (›Des Jägers Leichenbegängnis‹). – An dieser Stelle ist es aber irrelevant, was dargestellt wird – es kommt nur auf die Stimmung an, welche zum Ausdruck gebracht werden soll und aus der dann jäh, wie der Blitz aus der dunklen Wolke, der 4. Satz springt. Es ist einfach der Aufschrei eines im Tiefsten verwundeten Herzens, dem eben die unheimlich und ironisch brütende Schwüle des Trauermarsches vorhergeht. Ironisch im Sinne des Aristoteles ›eironeia‹.«

Im gleichen Jahr 1884, in dem die ersten Skizzen zur 1. Sinfonie entstanden, hatte Mahler nach vier selbstverfassten Gedichten die Lieder eines fahrenden Gesellen komponiert. Sie waren ein Versuch, die bitteren Erfahrungen seiner unglücklichen Liebe zu Johanna Richter zu verarbeiten – einer Sängerin, die er in seiner Zeit als Zweiter Kapellmeister am Kasseler Theater kennengelernt hatte. Auch die 1. Sinfonie zog ihre Inspiration aus diesem tiefgreifenden Erlebnis, wenngleich Mahler gegenüber Max Marschalk später einschränkend betont, »dass die Sinfonie über die Liebesaffäre hinaus ansetzt; sie liegt ihr zugrunde – resp. sie ging im Empfindungsleben des Schaffenden voraus. Aber das äußere Erlebnis wurde zum Anlass und nicht zum Inhalt des Werkes.« Gleichwohl geht das »äußere Erlebnis« der unglücklichen Kasseler Romanze ebenso wie die Melodik der Kasseler Zeit in die Leipziger Sinfonie mit ein: Das Thema Ging heut morgen übers Feld (das zweite der Lieder eines fahrenden Gesellen) wird zum Hauptthema des ersten Satzes. Aus dem bereits 1880 entstandenen Lied Maitanz im Grünen entwickelt Mahler den zweiten Satz und im dritten Satz ist die Volksweise Auf der Straße stand ein Lindenbaum zu hören, die Mahler auch im letzten seiner Lieder eines fahrenden Gesellen zitierte. Einleitend und abschließend erklingt im dritten Satz in beklemmender Verfremdung das bekannte französische Kinderlied Frère Jacques, dormez-vous?

Mit seinen so extremen Gegensätzen zwischen Makabrem, Hohnvoll-Parodistischem, Vulgärem und traumhaft Melancholischem wurde dieser Satz anfangs so missverstanden wie kein anderer. »Der dritte Satz«, so Bruno Walter, »ist ein neuer Laut in der Musik gewesen, und seine Bedeutung rechtfertigt eine Erörterung. Es ist der ›Trauermarsch in Callot's Manier‹, in ihm befreit sich der junge Komponist vom Erlebten. Mahler war sich in der Vehemenz seines Gefühls der Kühnheit nicht bewusst, zum Ausdruck für dumpfbrütende Verzweiflung, für schneidenden Schmerz diesen gespenstisch schleichenden Kanon, diese Musik frechen Hohns, grellen Auflachens zu wählen; das Stück trägt das Signal genialischer Inspiration, Neuheit und rückhaltloser Wahrhaftigkeit, und das Erstaunen, das es bei den ersten Aufführungen hervorgerufen hat, kann uns nicht wundernehmen.« Ihm folgt im Finale der »Kampf des Helden um den wahren ›Sieg‹«, wie er 1894 in einem Brief an Richard Strauss erklärte: »Ich beabsichtige eben einen Kampf darzustellen, in welchem der Sieg dem Kämpfer gerade immer dann am weitesten ist, wenn er ihn am nächsten glaubt. – Dies ist das Wesen jedes seelischen Kampfes. – Denn so einfach ist das da nicht, ein Held zu werden oder zu sein.«

Andreas Maul

Die Interpreten:

Alain Altinoglu

ist der neue Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters Frankfurt. Mit Beginn der Saison 2021/22 hat er die musikalische Leitung des Orchesters des Hessischen Rundfunks übernommen.

Alain Altinoglu feiert mit seinen Interpretationen des romantischen und impressionistischen Repertoires wie seinem Engagement für die Musik der Gegenwart und der Klassischen Moderne international große Erfolge. Regelmäßig gastiert er bei den renommierten amerikanischen Orchestern in Boston, Chicago, Cleveland und Philadelphia sowie beim Philharmonia Orchestra London, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem London Symphony Orchestra, dem Concertgebouw-Orchester Amsterdam, der Sächsischen Staatskapelle Dresden, dem Tonhalle-Orchester Zürich und auch den führenden Orchestern in Paris. Zweimal war Altinoglu bereits bei den Berliner Philharmonikern zu Gast. Eine intensive Zusammenarbeit verbindet ihn außerdem mit den Wiener Philharmonikern.

Altinoglu gehört zugleich zur Liga der international hoch renommierten Operndirigenten. Seit 2016 leitet er als Musikdirektor das Brüsseler »Théâtre Royal de la Monnaie«. An vielen bedeutenden Opernhäusern weltweit hat er bereits Premieren geleitet. Neben der Metropolitan Opera New York, dem Royal Opera House Covent Garden London, dem Teatro Colón Buenos Aires, der Staatsoper Wien, dem Opernhaus Zürich, der Deutschen Oper Berlin, der Staatsoper Unter den Linden, der Bayerischen Staatsoper München sowie den drei Pariser Opernhäusern gastiert er regelmäßig auch bei den Festspielen in Bayreuth, Salzburg, Orange und Aix-en-Provence.

Als Pianist widmet sich Alain Altinoglu darüber hinaus der Liedbegleitung und macht gelegentlich auch Ausflüge in den Bereich von Jazz und Improvisation. Zahlreiche CD-Veröffentlichungen zeugen von seiner vielfältigen, erfolgreichen künstlerischen Arbeit.

Der 1975 in Paris geborene Franzose mit armenischen Wurzeln studierte am Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse, an dem er seitdem auch selbst unterrichtet und seit 2014 die Dirigierklasse leitet.