Maurice Ravel: Ma mère l'Oye | Tan Dun: Konzert für Streichorchester und Zheng | Nikolaj Rimskij-Korsakow: Scheherazade

»Ferne Welten« oder »Zwischen Orient und Okzident« – Ein märchenhaftes Programm mit der chinesischen Guzheng-Spielerin Yuan Li kann man in diesem Jungen Konzert des hr-Sinfonieorchesters erleben.

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Programm

YUAN LI | Guzheng
JULIAN KUERTI | Dirigent

Maurice Ravel | Ma mère l'Oye
Tan Dun | Konzert für Streichorchester und Zheng
Nikolaj Rimskij-Korsakow | Scheherazade

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»Die Guzheng erschien zuerst während der Zeit der Streitenden Reiche (481–256 v. Chr.)«, heißt es bei Wikipedia, wo »der elegante Klang und die zahlreichen Ausdrucksmöglichkeiten« des Instruments hervorgehoben werden. Ein Instrument im Lexikon nachschlagen zu müssen: Hier ist es keine Schande. Denn dieser altehrwürdige Klassiker der chinesischen Musik ist ein echter Exot in westlichen Konzertsälen. Der Komponist aber, der diese Wölbbrettzither in sein Werk aufgenommen hat, ist umso populärer, selbst bei denen, die öfter im Kinosessel Platz nehmen als im klassischen Auditorium: Tan Dun bekam im Jahr 2000 einen Oscar für seine Filmmusik zum Martial-Arts-Meisterwerk »Tiger and Dragon«. Ein Blick auf vergangene Zeiten und ferne Welten zwischen Orient und Okzident ist auch das: Maurice Ravels musikalische Märchensammlung »Ma mère l’Oye« und Nikolaj Rimskij-Korsakows betörendes Klangspiel aus »1001 Nacht«, benannt nach der persischen Königstochter Scheherazade.

Maurice Ravel (1875–1937)
Ma mère l'Oye - Cinq pièces enfantines (1908-10)

DER KOMPONIST

Maurice Ravel, geboren 1875 in Ciboure in den Pyrenäen und 1937 in Paris gestorben, gilt neben Debussy als Hauptrepräsentant des musikalischen Impressionismus. Allerdings gelangte er zu einem eigenständigen Stil, der impressionistische Klangfarben mit einer klaren Formensprache und folkloristischen Elementen unterschiedlicher Provenienz verband. Ab 1889 studierte Ravel am Pariser Conservatoire Klavier, Kontrapunkt und Komposition bei Gabriel Fauré. Im Gegensatz zu Debussy lehnte er sich gegen die althergebrachten strengen kompositorischen Normen dort aber nicht auf, sondern suchte ihnen neue Aspekte und Inhalte zu verleihen. Schon seine ersten Kompositionen zeigten dabei jene für Ravel typischen chamäleonartigen Züge der musikalischen Verfremdung, Verstellung und Überzeichnung.

Der gewitzte Komponist kokettierte sein Leben lang mit modischen Trends und Einflüssen, spielte mit den Ausdrucksmitteln eines orgiastischen Klangrausches ebenso wie mit verhaltener Sinnlichkeit, rhythmisch-melodischen Exotismen und exakt kalkulierten dynamischen Effekten. Menschlich scheu und hypersensibel, zog sich der kaum 1,60 Meter große Ravel dabei in seinen musikalischen Sujets zunehmend in die fantastische Welt der Märchen zurück – ein zauberhaftes, mystisches Reich, in dessen Schutz er die Träume eines Kindes träumte. Die reale Welt, namentlich die der tradierten musikalischen Formen, erfährt in den Spiegeln dieses »künstlichen Paradieses« zahllose reizvolle prismatische Brechungen. Ravels eigentümlich distanziert wirkende Musik besticht dabei stets durch ihre außerordentliche Bildhaftigkeit und ihre gleichermaßen große instrumentationstechnische Virtuosität.

DAS WERK

Seit Robert Schumanns Klavierzyklen »Kinderszenen« und »Album für die Jugend« schrieben Generationen von Komponisten dezidiert Werke für Kinder oder setzten sich thematisch mit deren Lebenswelt auseinander. Doch nur selten lässt sich in derartigen Stücken ein ähnlich ernsthaftes Bemühen eines erwachsenen Künstlers um ein zartes Einfühlen in die vielschichtigen Sphären der kindlichen Fantasie konstatieren, wie das Maurice Ravel in seiner Suite »Ma mère l’Oye« (Mutter Gans) gelang. Mit großer Empathie zeichnete er in den »fünf Kinderstücken« die verzaubert-bezaubernde Atmosphäre der ihm zur Vorlage dienenden französischen Märchen nach.

Diese fand Ravel in drei verschiedenen Sammlungen. Zur Pavane de la Belle au bois dormant (Dornröschens Pavane) und zu Le Petit Poucet (Der kleine Däumling) regten den Komponisten zwei Erzählungen aus Charles Perraults »Histoires ou Contes du temps passé« von 1695 an, die auch als »Contes de ma mère l’Oye« bekannt wurden. Die Idee für das dritte Stück der Suite, Laideronnette, Impératrice des Pagodes (Die kleine Hässliche, Kaiserin der chinesischen Figürchen), schöpfte Ravel aus einer Sammlung Marie Catherine d’Aulnoys aus dem Jahre 1698, während Les entretiens de la Belle et de la Bête (Die Gespräche zwischen der Schönen und dem Untier) durch eine Szene aus Jeanne-Marie Leprince de Beaumonts 1757 erschienenen populären Märchen inspiriert wurde. Zum letzten Satz, Le jardin féerique (Der Zaubergarten), ließ sich keine unmittelbare literarische Vorlage ermitteln.

Die fünfteilige Orchestersuite »Ma mère l’Oye« stellt die ebenso ökonomisch wie brillant orchestrierte Fassung eines ursprünglich für Klavier zu vier Händen entstandenen Werkes. 1908 schrieb Ravel zunächst die kurze Dornröschen-Pavane für die Kinder des mit ihm eng befreundeten Ehepaars Godebski. Durch seinen Verleger Durand angeregt – und ohnehin sein Leben lang zu märchenhaft-mythischen Stoffen hingezogen – entschloss sich der Komponist aber schon bald, dem nur 20 Takte kurzen Stückchen vier weitere Sätze hinzuzufügen. Im April 1910 fand die Uraufführung der nunmehr fünfsätzigen Klaviersuite statt, die von Ravel bereits im darauffolgenden Jahr für Orchester umgearbeitet, schließlich sogar durch weitere Stücke ergänzt und mit einem selbstentworfenen Szenario versehen zu einer kompletten Ballettmusik erweitert wurde.

Unter dramaturgischen Aspekten weist »Ma mère l’Oye« in seiner heute Abend erklingenden fünfsätzigen Form eine gewisse Symmetrie auf: Während das zentrale Stück mit dem Konzert der Pagoden den einzigen moment musical innerhalb der ihm zugrundeliegenden längeren Erzählung illustriert, wählt Ravel im zweiten und vierten Satz die entscheidende Szene des jeweiligen Märchens zum Thema (Nr. 2: Der kleine Däumling entdeckt, dass er sich im Wald verirrt hat, weil Vögel die von ihm als Wegmarkierung ausgestreuten Brosamen aufgepickt haben; Nr. 4: Die Schöne entschließt sich, das Untier zu heiraten, wodurch sich dieses in einen strahlenden Prinzen zurückverwandelt). Die beiden Rahmenteile schließlich stellen lediglich musikalisch-poetische Charakterbilder des schlafenden Dornröschen bzw. eines verwunschenen Zaubergartens dar.

»Die Absicht, in diesen Stücken die Poesie der Kindheit wachzurufen, hat mich ganz natürlich dazu geführt, mein Komponieren zu vereinfachen und meinen Stil zu verschlanken.« Diese bewusste Reduktion Ravels bei der Arbeit an seiner Märchensuite äußert sich im Verzicht auf jede virtuose Attitüde, in einer klaren Linearität der Stimmen statt einer komplexen polyphonen Faktur sowie in der Wahl einfacher formaler Strukturen – zumeist eines dreiteiligen »A-B-A«-Musters. Darüber hinaus wahrt er durch die Verwendung einer begrenzten Anzahl von Instrumenten auch in der Orchesterfassung die geradezu kristalline Durchsichtigkeit des musikalischen Gefüges.

Dennoch weist das Werk zahlreiche charakteristische Merkmale von Ravels Personalstil auf: die Neigung zu modalen Skalen und Harmonien, die mal farbig-schillernde, mal melancholisch abschattierte, aber stets äußerst klangsinnliche Instrumentierung, die herausgehobene Rolle des Tanzes (die Pavane in Nr. 1, der Marsch in Nr. 3, der langsame Walzer in Nr. 4 sowie die Sarabande im letzten Satz) oder die Vorliebe für exotische Klänge, welche sich hier in einem von der javanischen Gamelan-Musik inspirierten Konzert der chinesischen Figürchen in Laideronnette zeigt. So ist »Ma mère l’Oye« bei aller kunstvollen Simplizität nicht nur ein »echter Ravel« geworden, sondern zweifellos eine seiner besten Kompositionen überhaupt.

Adam Gellen

Tan Dun (*1957)
Konzert für Streichorchester und Zheng (1994/1999/2007)

DER KOMPONIST

Tan Dun, geboren 1957 in Si Mao in der südostchinesischen Provinz Hunan, ist als Komponist, Dirigent und Performer einer der außergewöhnlichsten und interessantesten Musikerpersönlichkeiten seiner Generation. Schon in seiner Kindheit tauchte er tief in die chinesische Musikkultur ein, lernte aber auch das Violinspiel. Ab 1976 arbeitete er in einer Peking-Operntruppe in Hunan, bevor er 1978–83 am Zentralkonservatorium in Peking Komposition studierte. Dort lernte er auch die bis dahin offiziell unterdrückte Musik der westlichen Moderne und Avantgarde kennen. 1986–93 setzte er seine Studien an der Columbia University in New York fort, wo er bis heute lebt und arbeitet. Seine Musik zeigt eine neuartige Vorgehensweise interkulturell geprägten Komponierens, das kulturelle Identitäten fortgesetzt miteinander kontrastiert, in Frage stellt und neu definiert. Stand dabei zunächst der Versuch einer Synthese aus traditioneller chinesischer Musikpraxis und westlicher Modernität im Vordergrund (bis etwa 1985), so kam es in der frühen New Yorker Zeit zu einer verschärften Betonung der eigenen kulturellen Differenz (bis etwa 1990) und schließlich zu einer anspielungsreichen, zwischen den Idiomen changierenden musikalischen Sprache.

Vielfach mit Preisen ausgezeichnet, darunter 1998 mit dem hochdotierten »Grawemeyer Award« für klassische Komposition für seine Oper »Marco Polo«, dem »Grammy« und einem »Oscar« für seine Filmmusik zu Ang Lees »Tiger & Dragon« (2000) sowie dem »Musical America's Composer of the Year Award« (2003), werden die Werke Tan Duns inzwischen weltweit von führenden Orchestern, Opernhäusern, Festivals, Organisationen wie dem IOC, Unternehmen wie Google/YouTube (»Internet Symphony No. 1«) und Rundfunkanstalten in Auftrag gegeben und präsentiert. Mit großem Erfolg hat er bereits viele der renommiertesten Orchester selbst dirigiert, darunter das Concertgebouw-Orchester Amsterdam, die New York Philharmonic, das Boston Symphony Orchestra, das London Symphony Orchestra, die Berliner Philharmoniker und die Münchner Philharmoniker.

DAS WERK

Mit seinen unkonventionellen Werken überschreitet Tan Dun bewusst musikalische und kulturelle Grenzen – insbesondere die zwischen fernöstlich und westlich geprägten Kunstformen, aber auch diejenigen zwischen den Sphären des Klassischen und des Populären. Die unterschiedlichen Einflüsse, die er mit einer beispiellosen Offenheit und Neugierde sucht und verinnerlicht, verarbeitet er dabei anschließend in seinem Œuvre auf ebenso vielfältige wie kreative und spannende Weise.

Zu Tan Duns internationalem Durchbruch in der ersten Hälfte der 1990er Jahre trug auch die 1994 vollendete »Ghost Opera« für Streichquartett und das chinesische Lauteninstrument Pipa sowie für Steine, Wasser, Papier und Metall bei, die er für das renommierte Kronos Quartet komponierte. Das Werk ist inspiriert von der 4.000 Jahre alten Tradition taoistischer Beerdigungszeremonien, in deren Rahmen Schamanen mit den Geistern aus Vergangenheit und Zukunft kommunizieren und Dialoge zwischen der Natur und der menschlichen Seele entwickeln. »Dieser Dialog«, so Tan Dun, »erzeugt einen neuen Kontrapunkt aus verschiedenen Zeiten, verschiedenen Klangwelten und verschiedenen Kulturen.«

Aus seiner eher experimentellen, aus fünf Abschnitten bestehenden »Ghost Opera« kondensierte Tan Dun im Jahre 1999 das Konzert für Streichorchester und Pipa, in dem er das musikalische Ausgangsmaterial in die konventionellere Form eines viersätzigen Instrumentalkonzerts goss. Es ist ein Werk voller dynamischer und klangfarblicher Effekte, eine anspielungsreiche und zugleich sinnliche Musik mit einem äußerst virtuosen Solo-Part. Um sein Konzert einem größeren Kreis von Solisten zugänglich zu machen und sie dadurch nachhaltiger im Repertoire zu etablieren, schuf Tan Dun 2007 eine Version der Solo-Stimme für ein anderes uraltes Instrument seiner chinesischen Heimat: die »zhēng« oder »gǔzhēng« genannte Wölbbrettzither (»gǔ« hat hier in etwa die Bedeutung »antik«, »altertümlich«). Die Uraufführung dieser Fassung als Konzert für Streichorchester und Zheng fand im November 2007 mit der Solistin des heutigen Abends, Yuan Li, unter Leitung des Komponisten in Stockholm statt.

Die aus einem langen, schmalen, leicht gewölbten Holzkorpus bestehende Guzheng entstand vor rund 2.500 Jahren und war schon wenige Jahrhunderte später aus der traditionellen chinesischen Musik nicht mehr wegzudenken. Ursprünglich dürfte das Instrument fünf Seiden-Saiten gehabt haben, später wurde deren Anzahl auf 13 erhöht. Eine heutige Zheng hat einen Tonumfang von drei bis vier Oktaven und bis zu 25 Nylon-Metall-Saiten, üblich sind jedoch 21; diese werden zumeist mit Plektren gezupft. Eine Besonderheit ist die Tatsache, dass jede einzelne Saite der Zheng bewegliche Stege aufweist, mit deren Hilfe die Länge des schwingenden Saitenabschnittes und damit die jeweilige Tonhöhe reguliert werden kann. Durch unterschiedliche Spiel- und Verzierungstechniken ist ein solches modernes Instrument dabei zu vielfältigen klanglichen Nuancierungen fähig.

Im Konzert für Streichorchester und Zheng (bzw. in seiner ursprünglichen Fassung für Solo-Pipa) reduziert Tan Dun das Instrumentarium und die Performance-Elemente, welche die als Ausgangspunkt dienende »Ghost Opera« noch charakterisiert hatten. Die Orchestermitglieder – allesamt Streicher – müssen hier nun keine »Nebeninstrumente« wie Gongs, Papier, Wasserschalen oder tibetische Glocken mehr zum Klingen bringen und auch keine Shakespeare-Verse oder chinesische Volkslieder singen; durch Stampfen, Klatschen und »vokale Aktionen« diverser Art überschreiten sie dennoch auch im Zheng-Konzert ihre im klassischen Musikbetrieb traditionell eingenommene Rolle als reine Spezialisten auf ihrem jeweiligen Instrument.

Besondere Erwähnung verdient darüber hinaus die ausgedehnte, virtuose Solo-Kadenz am Ende des zweiten Satzes, auf die das Orchester unmittelbar mit einer Passage reagiert, in der Tan Dun auf das »westliche« Ritual des Einstimmens zu Beginn jeder Konzerthälfte Bezug nimmt. Interessanter noch ist aber das Zitat des cis-Moll-Präludiums BWV 849 aus dem 1. Teil von Johann Sebastian Bachs »Das wohltemperierte Klavier« im dritten Satz des Konzerts für Streichorchester und Zheng, wo die expressive Melodielinie ihrer pentatonischen, also quasi-chinesischen Variante (gleich zu Beginn von der Solo-Violine präsentiert, später dann von der Zheng aufgegriffen) gegenübergestellt wird.

Adam Gellen

Nikolaj Rimskij-Korsakow (1844–1908)
Scheherazade op. 35 (1888)

DER KOMPONIST

Nikolaj Rimskij-Korsakow, geboren 1844 im russischen Tichwin/Distrikt Nowgorod, gestorben 1908 in Ljubensk/Distrikt St. Petersburg, war als Komponist, Hochschulprofessor und Dirigent eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der russischen Musik im 19. Jahrhundert. Er stieß Anfang der 1860er Jahre als jüngstes Mitglied zu der bald als »Mächtiges Häuflein« bzw. »Gruppe der Fünf« bekannt gewordenen Komponistengruppe, welche sich unter der Führung Mili Balakirews mit einer bewusst anti-akademischen Attitüde um die Etablierung einer nationalrussischen Musiksprache in der Nachfolge Michail Glinkas bemühte. Nachdem er zuvor auf Drängen Balakirews vorwiegend auf dem Gebiet der Orchestermusik reüssiert hatte, wurde Rimskij-Korsakows Schaffen 1889 durch das Erlebnis von Wagners »Der Ring des Nibelungen« endgültig in Richtung Oper gelenkt. Mit 15 Werken für das Musiktheater wurde er zum produktivsten russischen Opernkomponisten der Romantik. International ist er heute freilich – vom instrumentalen Opernzwischenspiel »Der Hummelflug« abgesehen – vor allem durch seine 1887/88 entstandenen Orchesterwerke »Capriccio espagnol«, »Scheherazade« und die Ouvertüre »Russische Ostern« bekannt.

Aufgewachsen in der russischen Provinz rund 200 km östlich von St. Petersburg, begann Nikolaj Rimskij-Korsakow 1856 der Familientradition entsprechend seine schulische und militärische Ausbildung im Petersburger Seekadettenkorps und wurde anschließend zu einem dreijährigen Dienst auf einem Kriegsschiff abkommandiert, der ihn u.a. nach Nord- und Südamerika führte. Erst nach seiner Rückkehr im Jahre 1865 entschloss er sich endgültig, eine Laufbahn als Komponist einzuschlagen, arbeitete zunächst aber noch bis 1873 als Beamter im Marinedienst (und dann noch einige Jahre als Inspekteur der russischen Marinemusik) weiter. Seine Ernennung zum Professor am Konservatorium von St. Petersburg im Jahre 1871 markierte schließlich seine endgültige Abkehr von Balakirews Ideal des Dilettantismus hin zu akademischer Disziplin. Zu Rimskij-Korsakows berühmtesten Studenten zählten Ljadow, Glasunow, Strawinsky, Prokofjew und Respighi. Bedeutung erlangte er zudem als Bearbeiter, Herausgeber und Vollender zentraler Werke von Glinka, Borodin und Mussorgskij.

DAS WERK

Rimskij-Korsakow war ebenso fasziniert vom Orient wie von Fabeln und Märchen. Er war der Programmmusik zugeneigt sowie einem musikalischen Orientalismus, der der europäischen Ästhetik und hergebrachten Kompositionsnormen den Rücken kehrte. Rimskij-Korsakows 1888 komponierte Orchestersuite »Scheherazade« op. 35 sollte beide Aspekte miteinander vereinen.

Scheherazade, die Erzählerin aus »Tausendundeine Nacht«, wurde dabei zur Namensgeberin der Orchestersuite. Der Ursprung des Stoffes wird aufgrund der Erzählweise und der Parabeln in Indien vermutet und um das Jahr 250 angesetzt. Um 500 wird die Sammlung ins Persische übertragen, doch viele der gesammelten Erzählungen gingen im Lauf der Zeit verloren. In den folgenden tausend Jahren wird die Sammlung immer wieder ergänzt, und als sie im 18. Jahrhundert erstmals nach Europa gelangt, vereint sie Geschichten aus dem persischen, arabischen und dem Mittelmeerraum. Ursprünglich mündlich übertragene Volkserzählungen, die sich zum Teil um historische Persönlichkeiten ranken, wurden dabei mit Mythen und Fabeln verwoben. In Europa erscheint die Sammlung zuerst in französischer Sprache. Bemüht, in »Tausendundeiner Nacht« tatsächlich 1001 Erzählungen unterzubringen, ergänzte der Übersetzer die Sammlung um weitere Geschichten aus Nordafrika.

Scheherazade ist eine zentrale Gestalt in der Rahmenhandlung der Sammlung. Sultan Shahriyar wird von seiner Frau betrogen und will sich vor einem weiteren Verrat durch eine Frau schützen. Jeden Tag heiratet er eine neue Frau, um sie nach der Hochzeitsnacht hinrichten zu lassen. Er glaubt sich nur so vor erneutem Betrug schützen zu können. Scheherazade bewegt ihren Vater dazu, sie mit dem Sultan zu verheiraten, denn sie möchte diesen von seinem mörderischen Treiben abbringen. Um ihrer Hinrichtung zu entgehen, erzählt sie dem Herrscher jede Nacht Geschichten und unterbricht im Morgengrauen an einer besonders spannenden Stelle ihre Erzählung. Der Sultan verschiebt so ihre Hinrichtung immer wieder auf den folgenden Tag. Zuletzt verliebt er sich in Scheherazade und begnadigt sie – inzwischen Mutter von drei Kindern des Sultans – nach 1001 Nächten.

In Rimskij-Korsakows sinfonischer Orchestersuite »Scheherazade« folgt der Hörer in vier Sätzen den Erzählungen Scheherazades. Während nur eine kleine Auswahl der 1001 Märchen in der Musik vertreten ist, sind die zwei Charaktere der Rahmenhandlung deutlich zu erkennen. Die Suite beginnt mit dem Thema des Sultans, das mit allen Streichern sowie einigen Holz- und Blechbläsern die ersten Takte der Komposition dominiert. Ihm folgt das verspielte Thema der Scheherazade, präsentiert von einer Solovioline in Begleitung einer Harfe. Das Thema der Scheherazade taucht in jedem Satz auf und schließt das Werk auch ab. Das thematische Material wird dabei durch alle Sätze hindurch einem virtuosen Motivspiel unterworfen: »Indem die Motive und Themen jedes Mal in verschiedenen Farben, Formen und Stimmungen erscheinen, entsprechen sie immer verschiedenen Vorstellungen, Handlungen oder Bildern«, erläuterte Rimskij-Korsakow in seiner Autobiografie sein kompositorisches Prinzip bei »Scheherazade«.

Zunächst arbeitete Rimskij-Korsakow ohne programmatische Titel. Freunde überredeten ihn jedoch zu Überschriften, die auf einzelne Märchen verweisen. Den ersten Satz überschrieb er mit Das Meer und Sindbads Schiff. Der Titel des zweiten Satzes, Die Geschichte vom Prinzen Kalender, verweist auf die Erzählung über einen Adligen, der als Bettler umherzieht und sich mit Zaubertricks und Geschichtenerzählen über Wasser hält. Mit Der junge Prinz und die junge Prinzessin sind Prinz Kamar al-Zanna und Prinzessin Budur gemeint, die einander so ähnlich waren, dass man sie für Zwillinge hielt – so will es die Erzählung. Der Titel des vierten Satzes verweist schließlich auf eine Reihe von Geschichten: Feier in Bagdad. Das Meer. Das Schiff zerschellt am Magnetberg mit dem ehernen Reiter.

Später distanzierte sich Rimskij-Korsakow wieder von den Satzüberschriften. Denn er wollte nicht den Eindruck vermitteln, dass die Sätze unzusammenhängende Geschichten erzählen, sondern den Zuhörer dazu ermutigen, auf seine eigene Reise durch »eine kaleidoskopartige Folge von Märchenbildern orientalischen Gepräges« zu gehen.

Caroline Damaschke

(Dieser Text entstand im Rahmen des Projekts »Konzertdramaturgie« am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt mit freundlicher Unterstützung der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main. )