Johann Sebastian Bach/Anton Webern: Ricercar | Gustav Mahler: Rückert-Lieder | Arnold Schönberg: 2. Kammersinfonie | Franz Schubert: 6. Sinfonie

Von Bach bis Schönberg reicht die musikalische Palette des letzten Jungen Konzerts der Spielzeit, das der junge dynamische Italiener Antonello Manacorda dirigiert.

Weitere Informationen

Programm

ANNA LARSSON | Alt
ANTONELLO MANACORDA | Dirigent

Johann Sebastian Bach/Anton Webern | Ricercar
Gustav Mahler | Rückert-Lieder
Arnold Schönberg | 2. Kammersinfonie
Franz Schubert | 6. Sinfonie

Ende der weiteren Informationen

Die Wiener sind flexibler, als man denkt. So war Anton Webern, der rigorose Avantgardist, mit Feuereifer dabei, Werke des Barockmeisters Bach ins Klanggewand seiner Zeit zu packen. Und sein Lehrer Arnold Schönberg, den man ja in der sperrigen Schublade Zwölftonmusik abzulegen können glaubte, komponierte mit der zweiten Kammersinfonie ein geradezu einschmeichelndes Werk – »eine Sehnsucht zu dem älteren Stil zurückzukehren, war immer mächtig in mir; und von Zeit zu Zeit musste ich diesem Drang nachgeben. Also schreibe ich manchmal tonale Musik«, so Schönberg im Rückblick. Oder nehmen wir Gustav Mahler, der seine Mitwelt oft genug schockierte mit seinen krassen, auswüchsigen Sinfonien: Er schrieb 1901 fünf wunderlich anrührende Lieder mit so sanft-melancholischen Titeln wie »Ich atmet’ einen linden Duft« oder »Ich bin der Welt abhanden gekommen«. Ja, sie sind immer für eine Überraschung gut, die Wiener. Und Franz Schubert, der vielleicht wienerischste aller Wiener Komponisten? Schreibt seine sechste Sinfonie so, wie die Wiener sie damals hören wollten, nämlich im Stil des Italieners Rossini. Genutzt hat es ihm nichts, wie bei allen seinen Sinfonien erlebte er auch bei der Sechsten keine einzige öffentliche Aufführung.

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Ricercar a 6 (1747) für Orchester gesetzt von Anton Webern (1935)

DIE KOMPONISTEN

Johann Sebastian Bach, 1685 in Eisenach geboren und 1750 in Leipzig gestorben, war der wohl universellste Komponist des Abendlandes. In seinem umfangreichen Werk hat der berühmte Thomaskantor – die Oper ausgenommen – in nahezu allen musikalischen Gattungen seiner Zeit bis heute geltende Maßstäbe gesetzt. »Nicht Bach, Meer sollte er heißen.« Mit jenem berühmten Ausspruch hat schon Beethoven die einzigartige Bedeutung des großen Barock-Komponisten in Worte zu fassen versucht. Wie in einem gewaltigen Sammelbecken nahm Bach Einflüsse der deutschen, französischen und italienischen Musiktradition auf und verarbeitete sie in einem Gesamtwerk von singulärer Größe.

1703 nimmt Bach seine erste Organistenstelle in Arnstadt an, und dort entstehen auch seine ersten Kompositionen. 1707 wechselt er nach Mühlhausen, 1708 wird er an den herzoglichen Hof in Weimar berufen, wo Bach bis 1717 als Hoforganist und Kammermusiker wirkt. 1717 folgt seine Ernennung zum Hofkapellmeister in Köthen. 1723 schließlich wird Johann Sebastian Bach Kantor an der Thomaskirche und Director musices an der Thomasschule in Leipzig – ein Amt, das zugleich die Musikpflege an den Hauptkirchen Leipzigs beinhaltete und das er bis zu seinem Tode 1750 ausfüllte.

Anton Webern, geboren 1883 in Wien und 1945 bei Salzburg durch einen US-Soldaten versehentlich erschossen, war der vielleicht wichtigste Repräsentant der »Zweiten Wiener Schule«. Er avancierte schnell zum konsequentesten Vertreter der von seinem Lehrer Arnold Schönberg entwickelten »Reihentechnik«, d.h. der Komposition mit den aus allen zwölf Halbtönen einer Oktave konstruierten Melodiereihen. Auf den Namen Weberns beriefen sich in der Folge fast alle Komponisten der Nachkriegsavantgarde. Dieser außerordentlichen Wirkung steht die bis heute geringe Verbreitung der Webern'schen Musik im Konzertsaal entgegen, die in ihrer Radikalität oft »moderner« klingt als manches zeitgenössische Werk. Weberns schmales Œuvre zeugt dabei von einer kompromisslosen Konzentration bei gleichzeitig gespanntester Intensität: Jeder Moment ist bedeutsam in seiner Musik.

DAS WERK

Bachs »Ricercar a 6«, das Anton Webern 1934/35 für Orchester setzte, stammt aus dem »Musikalischen Opfer«, einer Sammlung von zwei Fugen, einer Triosonate sowie zehn Canons, mit denen Bach einst dem preußischen König Friedrich dem Großen musikalisch huldigte. 1747 war es zu einem Treffen zwischen Friedrich dem Großen und dem 27 Jahre älteren Bach in Potsdam gekommen. Der geistreiche und scharfsinnige Monarch, selbst begeisterter Amateurflötist und -komponist, schätzte den Meister des Kontrapunkts und Orgelspiels sehr. Und er war so erpicht, Bach zu sehen, zu hören und – offenbar auch – auf die Probe zu stellen, dass er ihm seinerzeit nicht einmal Zeit gelassen hat, nach der Anreise die Kleidung zu wechseln. Der König legte ihm ein verzwicktes musikalisches Thema (»thema regium«) vor, dessen Originalität allerdings vermuten lässt, dass seine Hofmusiker womöglich ihre Hände mit im Spiele hatten. Jedenfalls wollte Friedrich von Bach aus dem Stegreif eine Fuge zu sechs (!) Stimmen hören; Bach sagte offen, dass das Thema für derlei ungeeignet sei und improvisierte eine dreistimmige. Wieder zurück in Leipzig, ließ ihm die Bitte des Königs jedoch keine Ruhe, und so widmete Bach ihm wenige Monate später ein ganzes »Musikalisches Opfer« mit unterschiedlichsten Abwandlungen und Verarbeitungen des »königlichen Themas«, gipfelnd in der gewünschten sechsstimmigen Fuge, die Bach nun »Ricercar« nannte, ebenso wie die damals improvisierte dreistimmige.

Weberns kammermusikalische Orchestrierung jener sechsstimmigen Bach-Fuge für neun Bläser, Pauken, Harfe und Streicher entstand knapp zwei Jahrhunderte später mit dem Ziel, »die motivische Dichte dieser Komposition sichtbar zu machen«. Jenseits der zeitlosen Konstruktion des Werkes interessierten Webern dabei vor allem die Beziehungen zwischen den Intervallen selbst. Er unterstreicht diese inneren Beziehungen in seiner Orchesterfassung, indem er das »Ricercar«-Thema in Motive zerlegt, die er in unterschiedlichen Klangschattierungen auf verschiedene Instrumente verteilt – ein anschauliches Beispiel für das, was er »Klangfarbenmelodie« nannte. Webern ersetzt die abstrakte kontrapunktische Struktur und den gleichförmigen Klang des Tasteninstruments dabei durch ein paar gedämpfte Horntöne, einen leisen Einwurf der Trompete, eine zarte Andeutung der Klarinette, ein Murmeln der Solovioline – Klangfragmente, die das bange Lebensgefühl der Moderne widerspiegeln. Zugleich arbeitet er mit einer kontrastierenden Dynamik, subtilen Phrasierungstechniken und fließenden Tempi die in Bachs Musik verborgenen expressiven, nahezu romantischen Aspekte heraus.

Anton Webern, der 1906 mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit über den Renaissance-Komponisten Heinrich Isaac promoviert wurde, sah sich in einer Mittlerposition zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft der Musik – ein gerade nach dem Ersten Weltkrieg unter seinen »fortschrittlichen« Kollegen und Nachfolgern eher untypischer Standpunkt. Es war Weberns Bestreben, durch die Beschäftigung mit den alten Meistern die sich in Jahrhunderten angesammelten Erfahrungsschätze produktiv für eine neue musikalische Ausdrucksweise nutzbar zu machen. Das wohl anschaulichste praktische Beispiel für diese Leitidee Weberns stellt gerade seine Bach-Bearbeitung dar:

»Meine Instrumentation versucht, den motivischen Zusammenhang bloßzulegen. Das war nicht immer leicht«, konstatierte Webern später. »Natürlich will sie darüber hinaus andeuten, wie ich den Charakter des Stückes empfinde; dieser Musik! Diese endlich zugänglich zu machen, indem ich versuchte, darzustellen (durch meine Bearbeitung), wie ich sie empfinde, das war der letzte Grund meines gewagten Unternehmens! Ja, gilt es nicht zu erwecken, was hier noch in der Verborgenheit dieser abstrakten Darstellung durch Bach selbst schläft und für fast alle Menschen dadurch einfach noch gar nicht da oder mindestens völlig unfassbar ist? Unfassbar als Musik! … Noch etwas Wichtiges für die Wiedergabe meiner Bearbeitung: Hier darf nichts zurücktreten! Nicht der leiseste Ton einer Dämpfertrompete z.B. darf verloren gehen. Alles ist Hauptsache in diesem Werk und – in dieser Instrumentation.«

Andreas Maul

Gustav Mahler (1860-1911)
Rückert-Lieder (1901/02)

DER KOMPONIST

Gustav Mahler, 1860 im böhmischen Kalischt geboren und 1911 in Wien gestorben, hat zeit seines Lebens nach neuen musikalischen Ausdrucksformen gesucht. Getrieben von der Vision, »mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen«, steigerte er die Ausdrucksintensität der Musik ins Extreme und setzte sich über alle Konventionen seiner Zeit hinweg. So avancierte Mahler letztlich zum bedeutendsten Sinfoniker seiner Zeit und zu einem der wichtigsten Brückenbauer zur musikalischen Moderne, obwohl er vielfach angegriffen und seine Musik lange missverstanden und verurteilt wurde.

Gleich dreifach heimatlos – als Böhme in Österreich, als Österreicher in Deutschland und als Jude in der Welt –, verhandelte Mahler in seinen Sinfonien alle Widersprüche dieser Welt, und dies in einem Erzählstrom, der in seinen romanhaften Spannungskurven und Zusammenbrüchen den Werken der großen Romanciers der Jahrhundertwende ebenbürtig ist. Die innere Zerrissenheit von Mahlers Musiksprache, die charakteristisch zwischen Poetischem und Banalem, Erhabenem und Trivialem, Tiefempfundenem und Ironischem changiert, wurde allerdings erst 50 Jahre nach seinem Tod richtig verstanden und als bewegendes musikalisches Spiegelbild unserer Gegenwart erkannt.

Im Gegensatz zu seinem schwierigen Stand als Komponist hatte Gustav Mahler als Dirigent zu Lebzeiten eine steile Karriere gemacht: Nach ersten Kapellmeisterjahren in Bad Hall, Laibach, Olmütz, Wien, Kassel und Prag wurde Mahler 1888 Operndirektor in Budapest. Später wirkte er als Chefdirigent in Hamburg und wurde 1897 zum Direktor der Wiener Hofoper berufen – zum »Gott der südlichen Zonen«, wie er es selbst einmal nannte. Ab 1907 bis zu seinem Tod 1911 sollte Mahler dann schließlich auch noch in der Neuen Welt Erfolge feiern: als Musikalischer Leiter der berühmten New Yorker »Met« sowie der Konzerte der New York Philharmonic Society.

DAS WERK

Seine fünf »Lieder nach Texten von Friedrich Rückert« schrieb Gustav Mahler in zwei Schaffensphasen: in den Sommermonaten der Jahre 1901 und 1902. Zunächst entstanden dabei – gleichzeitig mit den ersten beiden Sätzen der 5. Sinfonie und den ersten drei »Kindertotenliedern« – die Vertonungen von vier Rückert-Gedichten als Klavierlied, die von Mahler sogleich jeweils auch für Gesangsstimme und Orchester bearbeitet wurden. Ein Jahr darauf komponierte Mahler schließlich noch als »Nachzügler« das Lied Liebst du um Schönheit für seine junge Frau Alma, die er erst wenige Monate zuvor geheiratet hatte. Von jenem »Privatissimum« fertigte der Komponist auch keine Orchesterversion an; diese entstand erst posthum im Jahre 1916 durch den Kapellmeister und Musikschriftsteller Max Puttmann im Auftrag des Leipziger Verlags C.F. Kahnt (welcher bereits zu Mahlers Lebzeiten die Klavier- und die Orchesterfassungen der übrigen vier »Rückert-Lieder« sowie Liebst du um Schönheit in der Originalversion als Klavierlied publiziert hatte).

Mahler hatte als Komponist schon relativ früh erkannt, dass das ihm gemäße musikalische Gestaltungsfeld im Bereich der Orchestermusik – und dort speziell in großdimensionierten sinfonischen Formen – liegen würde. Diese strenge und in einer solchen Konsequenz musikgeschichtlich fast beispiellose gattungsmäßige Selbstbeschränkung wurde nur durch Mahlers Auseinandersetzung mit dem Lied, insbesondere dem von ihm selbst mitentwickelten Orchesterlied, relativiert – wobei sich diese beiden Sphären in seinem Œuvre charakteristischerweise gegenseitig durchdringen und befruchten.

Nachdem Gustav Mahler zuvor fast ausschließlich Texte aus der Anfang des 19. Jahrhunderts von Clemens Brentano und Achim von Arnim herausgegebenen Volksliedtext-Sammlung »Des Knaben Wunderhorn« (nebst eigenen Gedichten in einem verwandten Idiom) für Vertonungen ausgewählt hatte, wandte er sich nach 1900 dem Werk Friedrich Rückerts (1788–1866) zu. Rückert, dessen literarischer Rang durchaus nicht unumstritten war, dessen Gedichte gleichwohl die bedeutendsten Komponisten der deutschen Romantik von Schubert über Schumann und Brahms bis hin Strauss zu Vertonungen inspirierten, machte sich nicht nur als Lyriker, sondern auch als Übersetzer, Sprachgelehrter und einer der Begründer der deutschen Orientalistik einen Namen.

»Legten die ›naturhaften‹, balladesken ›Wunderhorn‹-Texte eine nach distanzierender Objektivität strebende Vertonung nahe, so fordern hingegen die entschieden ich-bezogenen Rückert-Verse die subjektive Gestaltungskraft des Musikers geradezu heraus«, so der Mahler-Forscher Mathias Hansen. »Und dies, obwohl (oder gerade weil?) die Lieder im Gegensatz zu den ›Kindertotenliedern‹ keinen Zyklus bilden. Nach Mahlers eigenen Worten gehören sie jedoch zu seinen persönlichsten Schöpfungen – vielleicht weil sie in dem Sinne auch eine Einheit bilden, dass sie Facetten des Ausdrucks eines intimen Grundgefühls sind«.

Dass Mahler seine »Rückert-Lieder« nicht als einen Zyklus im engeren Sinne betrachtete, legt neben dem Fehlen musikalisch vereinheitlichender Momente auch die Tatsache nahe, dass er sie nicht als ein in sich geschlossenes Opus veröffentlichen ließ und dass er die Lieder in unterschiedlicher Auswahl, wechselnder Reihenfolge und teils sogar mit einzelnen »Wunderhorn«-Liedern durchmischt aufführte.

Mit der Ausnahme von Um Mitternacht – das sich von einem düsteren nächtlichen Stimmungsbild zu einer choralartig-hymnischen Bekenntnismusik mit sinfonischer Finalwirkung steigert – sind die »im Kammermusikton« (Mahler) gehaltenen »Rückert-Lieder« im Gegensatz zu Mahlers großangelegten, von schroffen Kontrasten lebenden Sinfonien wie auch zu den teils recht ausladenden, balladenhaften »Wunderhorn«-Liedern kurze, geschlossene Stücke von tendenziell privatem, ja intimem Charakter. Mahler verleugnet auch in ihnen nicht sein zeitlebens hochgehaltenes Ideal der volksliedhaft schlichten Melodiebildung.

Die grundsätzlich strophische Anlage der »Rückert-Lieder« greift Mahler zwar auf, passt dabei jedoch die Musik durch motivisch-thematische Variationen sowie Änderungen der Klangfarbe und weiterer Parameter der Textaussage der jeweiligen Stelle an. Mittels bewundernswert ökonomisch eingesetzter kompositorischer Mittel entwickeln die fünf Gesänge, in denen das Seelenleben des romantischen Künstlers thematisiert wird – Weltflucht-Utopien, Reflexionen über den eigenen Schaffensprozess, existenzielle Sinnsuche samt religiös fundiertem »Lösungsansatz«, aber natürlich auch die Liebe –, eine große rhetorische Kraft und eine stille Intensität.

Adam Gellen

Arnold Schönberg (1874–1951)
2. Kammersinfonie op. 38 (1906–07/1938)

DER KOMPONIST

Arnold Schönberg, 1874 in Wien geboren und 1951 in Los Angeles gestorben, hat die Musik im 20. Jahrhundert revolutioniert wie kein Zweiter: Radikal und umfassend realisierte er den Umbruch zur eigentlichen Neuen Musik. Schönberg war neben Josef Matthias Hauer der Begründer der Zwölftonmusik – jener Kompositionsweise, bei der eine Reihe aus den zwölf verschiedenen Tönen der Oktave an die Stelle der traditionellen Tonleiter tritt und alle kompositorischen Ebenen eines Werkes bestimmt. 1909 hatte es der im Prinzip konservative Schönberg als erster Komponist gewagt, die Musik konsequent von der Bindung an eine Grundtonart zu lösen. Die »Atonalität« führte ihn in der Folge schließlich zur Entwicklung seiner Kompositionstechnik »mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen«, die ab 1923 fast alle seine Stücke beherrschte und mit der er Generationen von Komponisten nachhaltig prägen sollte – nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten, die ihm später zu einer neuen Heimat wurden.

Da die öffentliche Aufführung seiner Werke schon früh heftige Proteste hervorrief, hatte Schönberg 1919 in Wien den »Verein für musikalische Privataufführungen« ins Leben gerufen. Er wurde zum Zentrum der von ihm begründeten »Zweiten Wiener Schule«, zu der auch seine Schüler Anton Webern und Alban Berg gehörten. Nachdem Schönberg bereits 1901–1903 und 1911–1915 in Berlin gelebt hatte, leitete er 1925–1933 eine Meisterklasse der Berliner Musikakademie. Von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner ästhetischen Vorstellungen verfolgt, emigrierte er schließlich in die USA und war 1934–1944 Lehrer in Los Angeles und Boston. 1941 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an.

DAS WERK

»Eine Sehnsucht, zu dem älteren Stil zurückzukehren, war immer mächtig in mir; und von Zeit zu Zeit musste ich diesem Drang nachgeben. Also schreibe ich manchmal tonale Musik.« Für die Sehnsucht, die Arnold Schönberg in diesem Zitat artikuliert, mag die 2. Kammersinfonie ein Zeugnis sein. Als er sie 1939 vollendete, hatte er sein System der Zwölftontechnik längst entwickelt und jahrelang angewandt. Dennoch griff er mit der 2. Kammersinfonie auf eine Skizze aus der Zeit vor der Zwölftontechnik zurück und behielt die traditionelle Harmonik bei.
Anfang der Zwanzigerjahre entwickelte Schönberg die Kompositionsmethode, für die er berühmt wurde, die »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« oder Zwölftontechnik. In den folgenden Jahren komponierte er fast ausschließlich nach dieser Methode. Doch als er 1933 in die USA emigrierte und begann, an der University of California in Los Angeles zu unterrichten, wandte sich Schönberg wieder vermehrt der Tonalität zu. Gerade in der Zeit von 1936 bis 1942 entstanden mehrere tonal orientierte Werke. Schönberg griff einige seiner zahlreichen Fragmente und Skizzen früherer Jahre auf und vervollständigte sie. Neben der Kammersinfonie op. 38 entstanden in diesen Jahren auch die Werke »Kol Nidre« für Sprecher, Chor und Orchester, die Orchesterbearbeitung von Brahms' g-Moll-Klavierquartett op. 25 sowie die Orgelvariationen.

Die ersten Entwürfe zur 2. Kammersinfonie stammen aus dem Jahr 1906. Schönberg notierte sie bereits wenige Tage nach der Fertigstellung der 1. Kammersinfonie op. 9. In den Sommern 1906 und 1907 entwarf Schönberg eine dreiteilige Anlage für das Werk und vervollständigte den ersten Satz. Nachdem er zu großen Teilen den zweiten Satz (Con fuoco) skizziert hatte, brach er seine Arbeit ab. Der Schlusssatz (Maestoso) findet sich nur in der damals geplanten Anlage, die finale Version weist nur zwei Sätze auf.

In den Jahren 1911 und 1916 nahm Schönberg die Arbeit an der Kammersinfonie erneut auf. In beiden Jahren versuchte er sich an der Fertigstellung des Werks. Allerdings ohne Erfolg: Er kam über die Instrumentierung einiger Takte nicht hinaus. Doch schrieb Schönberg in dieser Zeit einen Text mit dem Titel »Wendepunkt«, in dem er eine Art Programm für die 2. Kammersinfonie formulierte. Die melodramatische Dichtung beschreibt, wie auf Verzweiflung und Trauer ein neuer Anfang folgt: »Ihn zu finden war der Zweck alles vorherigen Erlebens.«

Den Anstoß für eine erneute Zuwendung zu der 2. Kammersinfonie erhielt Schönberg 1939 vom Dirigenten Fritz Stiedry. Er erinnerte Schönberg an Bruckners 1. Sinfonie und Verdis Oper »Simon Boccanegra« mit dem Hinweis, dass die Vollendung von Frühwerken durchaus erfolgreich sein könne. Stiedry fragte zudem nach einer Komposition für das von ihm geleitete Orchester »New Friends of Music« in New York. Letztlich waren es wohl eher pragmatische oder ökonomische Gründe, die Schönberg dazu bewogen, die Arbeit an der Kammersinfonie wieder aufzunehmen. Sehr pragmatisch ging er nun auch mit dem Werk um: Die ursprünglich notierte dreisätzige Anlage und Instrumentierung lassen darauf schließen, dass Schönberg hier zusammen mit der 1. Kammersinfonie ein Werkpaar im Sinn hatte. Doch 1939 richtete er sich bei der Instrumentierung nach den Möglichkeiten von Stiedrys Orchester und der Gedanke einer Doppelkonzeption verliert sich.

Die Harmonik des Werks ist in den Skizzen vorgezeichnet und schließt dort an, wo die 1. Kammersinfonie endet. Quartenakkorde stehen in einem Spannungsverhältnis zur traditionellen, auf Dreiklängen beruhenden Harmonik. Schönberg behält den ursprünglichen Entwurf des ersten Satz in es-Moll bei. Die hier erklingende charakteristische Flötenmelodie findet sich bereits in den ersten Skizzen aus dem Jahr 1906. Ebenfalls auf die frühen Entwürfe geht der erste Teil des zweiten Satzes in G-Dur zurück. Als zweiten Teil des zweiten Satzes schließt er einen Epilog in es-Moll (Molto adagio) an. Hier nimmt er thematisch Bezug auf den ersten Satz. Der ursprünglich geplante dritte Satz fällt weg. »Die musikalischen und ›psychischen‹ Probleme sind in den beiden fertigen Sätzen erschöpfend dargestellt« notiert Schönberg, wohl in Anspielung an seine Schrift »Wendepunkt«.

Caroline Damaschke

(Dieser Einführungstext entstand im Rahmen des Projekts »Konzertdramaturgie« am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Mit freundlicher Unterstützung der Cronstett- und Hynspergischen evangelischen Stiftung zu Frankfurt am Main.)

Franz Schubert (1797-1828)
6. Sinfonie C-Dur D 589

DER KOMPONIST

Franz Schubert, 1797 in Lichtental bei Wien (heute 9. Wiener Gemeindebezirk) geboren und 1828 in Wien gestorben, war der große Meister des deutschen Kunstliedes. Rund 600 Gedichte hat er vertont. Seine Liederzyklen zählen neben vielen seiner Klavier- und Kammermusikwerke zu den Marksteinen der Musikgeschichte. Als ebenso bedeutender Komponist von Sinfonien indes ist Schubert zu Lebzeiten gänzlich unbekannt geblieben: Keine seiner sieben vollendeten Sinfonien wurde vor seinem frühen Tod aufgeführt – Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy haben erst mehr als zehn Jahre später den Anstoß dafür gegeben, dass sie allmählich bekannt und in ihrer Bedeutung erkannt wurden. Schubert hatte lediglich 15 Jahre Zeit, um sein umfangreiches und vielseitiges Œuvre zu schaffen. Obwohl er mit Beethoven, dem unangefochtenen Meister der musikalischen Klassik, zur selben Zeit in derselben Stadt lebte und komponierte, ist seine Musik bereits tief vom Geist der Romantik erfüllt.

Wegen seiner schönen Stimme wurde Franz Schubert, Sohn eines Lehrers und Schulleiters, im Oktober 1808 als Sängerknabe in die Wiener Hofkapelle und in das kaiserliche Konvikt aufgenommen. Dort genoss er vielfältige Anregungen musikalischer Art, lernte neben Klavier auch das Geigenspiel und erhielt Kompositionsunterricht u.a. durch Antonio Salieri. 1813 wurde er Schulgehilfe des Vaters, lebte ab 1818 dann ohne feste Anstellung, meist unter dürftigen Verhältnissen, als freier Komponist in Wien. Ein gesichertes Einkommen bezog Schubert nur in den Sommermonaten 1818 und 1824 als Hauslehrer beim Grafen Esterházy in Ungarn. Ansonsten war er neben unregelmäßigen Einkünften aus den gelegentlichen Veröffentlichungen seiner Werke auf Unterstützung von Freunden angewiesen, die sich im geselligen literarisch-musikalischen Kreis der »Schubertiaden« trafen. Zu den Zuhörern gehörten dabei Persönlichkeiten wie die Dichter Franz Grillparzer und Johann Mayrhofer, der Komponist Franz Lachner und der Maler Moritz von Schwind.

DAS WERK

Die 6. Sinfonie, die man zur Unterscheidung von der »Großen« oft auch als »Kleine C-Dur-Sinfonie« bezeichnet, wird in der Regel Schuberts sinfonischem Frühwerk zugerechnet. Einerseits schließt sie mit ihrer Entstehungszeit 1817/18 die Kette seiner »Jugendsinfonien« ab, andererseits scheint sie sich im äußeren Charakter des Musizierens kaum von ihren Vorgängerinnen zu unterscheiden. Eine Sonderstellung ergibt sich allerdings bereits aus der ungewöhnlich langen Kompositionsarbeit von fünf Monaten, hatte Schubert seine sinfonischen Konzeptionen zuvor doch stets innerhalb weniger Wochen umgesetzt. Bei der Sechsten gerieten ihm Form und Inhalt erstmals zu einem Problem. So sollte die 6. Sinfonie letztlich auch die vorletzte vollendete Sinfonie Schuberts bleiben. Nur noch einmal, in der 1825/26 konzipierten »Großen C-Dur-Sinfonie«, konnte Schubert den sinfonischen Kontext abschließen. Zwischen 1818 und 1822 entstanden nur Entwürfe und Fragmente, darunter der berühmte Torso der »Unvollendeten«.

Die 6. Sinfonie steht somit zwischen den Zeiten. Sie hat nicht mehr die unbedingte Frische und Naivität der Jugendwerke, aber auch noch nicht die kompositorische Reife und Meisterschaft der »Unvollendeten«: Und so sehr man die Formbeherrschung, die harmonische Disposition und das Instrumentationsgeschick des 21-jährigen Schubert in ihr bewundern kann, überrascht doch auch eine gewisse Glätte und eine z.T. ins Triviale neigende Thematik. Dabei huldigt Schubert im zweiten Satz und im Finale ganz unverhohlen der damals in Wien grassierenden Rossini-Begeisterung. 1816 war der berühmte Italiener nach Wien gekommen. Seine Opern wurden begeistert aufgenommen, und selbst Beethoven äußerte sich über Rossinis Erfindungsreichtum anerkennend.

Allerdings gab Schubert seinen persönlichen Stil zugunsten der modischen Strömung nicht gänzlich auf. Seine Rossini'schen Übernahmen im Andante und im Finale konzentrieren sich vor allem auf die Melodiebildung und die Form. Beide Sätze sind als Ouvertüren angelegt, d.h. als Sonatensatz ohne Durchführung. Das Finale ist dabei thematisch durchweg von der spielerischen Buffa-Melodik geprägt, durchschreitet aber ungewohnt weite harmonische Bereiche. Der Kopfsatz wiederum erscheint mit seinen fein ausgeführten kammermusikalischen Episoden der Holzbläser formal als ein Sonatensatz angelegt, er wirkt aber klanglich ebenso eher als Ouvertüre: ein wenig kaleidoskopartig im Wechsel der Klangbereiche und dynamischen Gegensätze.

Formal ist in der Sechsten zudem auch der Einfluss Beethovens deutlich spürbar: u.a. in der Disposition des Kopfsatzes und des Scherzos. Erstmals verschärft Schubert hier das traditionelle Menuett zum genuin sinfonischen Charakter des Scherzos. Dabei stand der dritte Satz aus Beethovens 1. Sinfonie, formal noch mit Menuett überschrieben, zweifellos Pate. Jenseits all dieser stilistischen Anleihen suchte Schubert in seiner 6. Sinfonie aber in stärkerem Maße als je zuvor seinen eigenen sinfonischen Stil zu finden, was besonders im Schlusssatz deutlich wird, dessen Rhythmus in der Coda bereits auf das Finale der »Großen C-Dur-Sinfonie« weist.

Die 6. Sinfonie teilte im Übrigen das Schicksal aller Schubert-Sinfonien, zu seinen Lebzeiten nicht öffentlich aufgeführt worden zu sein. Ihre erste Aufführung erlebte sie allerdings bereits wenige Wochen nach Schuberts Tod im Dezember 1828 in einem Gedenkkonzert der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Man hatte damals zunächst die »Große C-Dur-Sinfonie« präsentieren wollen, diese aber letztlich als unspielbar wieder beiseite gelegt.

Andreas Maul