Igor Strawinsky: Le chant du rossignol | Maurice Ravel: Klavierkonzert für die linke Hand | Claude Debussy: La mer

Man muss es gesehen haben, sonst glaubt man es nicht: Der Pianist, der da das D-Dur-Klavierkonzert von Maurice Ravel spielt, verwendet nur eine Hand. Noch dazu die linke, doch darüber staunt dann nur der Laie – bei Pianisten dieser Klasse gibt es keine gute oder schlechte Hand mehr.

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Programm

JEAN-EFFLAM BAVOUZET | Klavier
JURAJ VALČUHA | Dirigent

Igor Strawinsky | Le chant du rossignol
Maurice Ravel | Klavierkonzert für die linke Hand
Claude Debussy | La mer

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Ravel schrieb im Jahr 1930 sein »Konzert für die linke Hand« für den Pianisten Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte. Man hört dabei nicht nur einen vollgriffigen Klavierpart wie für zehn Finger gesetzt, sondern mehr noch: Ein exquisites Klavierkonzert in starken Farben, das jazzig klingt und nach der Hektik der Großstadt. Starkes Leuchten, intensive Farben, angemischt für die Instrumente des Orchesters: In Frankreich hatte man dafür ja ein besonderes Händchen. Claude Debussy natürlich, der in seiner Hochsee-Hommage »La mer« effektvoll aus dem Vollen schöpfte. Oder auch Igor Strawinsky, der Russe in Paris, der mit »Le chant du rossignol« eine Gesangswettstreit zwischen einer echten und einer mechanischen Nachtigall zum Klingen brachte. Die Klangfarben feiern eine Orgie.

Igor Strawinsky (1882–1971)
Le chant du rossignol (1917)

DER KOMPONIST

Igor Strawinsky, 1882 bei St. Petersburg geboren und 1971 in New York gestorben, war eine der großen, stilbildenden Künstlerpersönlichkeiten im 20. Jahrhundert. Als Gegenspieler Arnold Schönbergs und der auf ihn zurückgehenden seriellen Schule, die das Komponieren einem strengen Reihendenken unterwarf, initiierte Strawinsky den Neoklassizismus, der durch Verwendung und Verfremdung bekannter wie historischer Formen und Methoden zu einer ganz eigenen Ästhetik des »reinen Spiels mit Tönen« gelangte. 1909 kam der hochtalentierte Privatschüler Nikolaj Rimskij-Korsakows erstmals nach Paris, wo er mit seinen frühen, den russischen Traditionen noch verpflichteten Ballettmusiken für Diaghilews berühmte »Ballets Russes« sofort Musikgeschichte schrieb.

1914 sieht Strawinsky seine Heimat für lange Zeit zum letzten Mal. Im Rahmen eines fortwährenden Exils lebt er zunächst vor allem in der Schweiz, 1920–1939 dann in Frankreich und siedelt 1940 schließlich nach Kalifornien über. Dabei schreibt der ab den 1920er Jahren der russisch-orthodoxen Kirche wieder nahestehende Komponist bis zu seinem Lebensende neben Konzerten, Balletten und Opern immer wieder auch religiöse Werke. Von Beginn an nutzt Strawinsky als Quelle für seine Musik auch Alltagsmaterial wie Jazz, Bauern- und Unterhaltungsmusik, die er mit wachem Witz und großem Kunstverstand mit den Errungenschaften der mitteleuropäischen Avantgarde konfrontiert. Ab den 1950er Jahren kommen schließlich auch serielle Techniken hinzu. Der Tanz begleitet dabei sein gesamtes Schaffen; die unterschiedlichsten Arten des Tanztheaters sind in jeder seiner Schaffensphasen zentral: vom legendären frühen »Feuervogel« bis hin zum Spätwerk »Agon« des 75-Jährigen.

DAS WERK

Klein und unscheinbar, aber mit einer bezaubernden Stimme fasziniert die Nachtigall den Menschen schon seit Jahrhunderten in besonderer Weise. Als Inbegriff für natürliche Musikalität entdeckt auch Igor Strawinsky den talentierten Singvogel für seine Arbeit und macht ihn zum Protagonisten des heutigen Abends.

1919 uraufgeführt, entsteht die sinfonische Dichtung »Le chant du rossignol« (Der Gesang der Nachtigall) als Konzentrat der dreiaktigen Oper mit dem Titel »Le rossignol« (Die Nachtigall). Basierend auf dem gleichnamigen Kunstmärchen des dänischen Dichters und Schriftstellers Hans Christian Andersen komponiert Strawinsky bereits 1908 den Prolog der Oper. Kurz darauf unterbricht er die Arbeiten jedoch, um stattdessen mit den renommierten »Ballets Russes« unter der Leitung von Sergej Diaghilew seine ersten Welterfolge zu feiern. In kurzer Folge entstehen »Der Feuervogel«, »Petruschka« und »Le sacre du printemps«. Erst nach diesen skandalumwitterten Ballettpremieren wendet sich Strawinsky wieder der Oper zu.

»…meine musikalische Sprache hatte sich seitdem erheblich gewandelt und ich fürchtete, dass die Musik der folgenden Bilder durch ihren neuen Geist sich zu sehr von der des Prologs unterscheiden würde.« Mit diesen Bedenken sollte Strawinsky durchaus Recht behalten. Die 1914 uraufgeführte Oper kann nicht an die vorangegangenen Erfolge anknüpfen. Erneut ist es der Impresario Diaghilew, der das ungebrochene Potential des Komponisten erkennt und ihn zur Umarbeitung der Oper in eine sinfonische Dichtung anregt. Hier nun kann Strawinsky die stilistischen Brüche der Oper umgehen, indem er nur Musik aus dem zweiten und dritten Akt in das Orchesterwerk einfließen lässt. Die kompositorische Nähe zu den berühmten Balletten ist dabei deutlich zu hören: Klanglich entspricht »Le chant du rossignol« ganz den Errungenschaften des »Feuervogels« und verweist mit seinen emanzipierten Rhythmen zugleich auf die Fortschritte des »Sacre«.

Die Erzählung beginnt mit den hektischen Festvorbereitungen im chinesischen Porzellanpalast und dem Einzug des Kaisers. Dieser lauscht verzückt den wunderbaren Melodien der Nachtigall, die in seinem Palast wohnt. Als sich der Hof jedoch einer mechanischen Nachtigall zuwendet, entlässt der Kaiser den Singvogel aus seinen Diensten. Erst nachdem die kalte Mechanik der künstlichen Nachtigall nicht mehr funktioniert, begreift der Kaiser die Tragweite seiner Entscheidung. Über den Verlust der Nachtigall all seiner Kräfte beraubt, liegt er im Sterben und sein Hofstaat nimmt mit einem Trauermarsch bereits Abschied. Letztlich erbarmt sich der kleine, unscheinbare Vogel des Kaisers doch und weckt in ihm neue Lebensgeister.

Solo-Flöte und Solo-Violine übernehmen die Hauptrolle in Strawinskys Orchesterfassung der Märchenerzählung. Beiden Instrumenten kommt die Rolle der Nachtigall zu. In virtuosen Figuren zwitschern sie ihre reichen, wohltönenden Melodien und treten mit der Solo-Klarinette als Charakterisierung des Kaisers in einen lebendigen Dialog. Die künstliche Nachtigall vermag indes nur eine Melodie wiederzugeben. In starren Oboensequenzen arbeitet sie sich über ihrem mechanischen Gerüst einsam auf und ab. Eingerahmt wird die Erzählung durch die Trompetenweise des tiefgründenden Fischers. Er betrachtet das Geschehen von Ferne und scheint bereits zu Beginn um das Ende zu wissen.

Igor Strawinsky findet in der exotischen Erzählung Andersens neue Ideen zur Gestaltung seiner Musik. Zu einem Zeitpunkt, an dem das tonale System der europäischen Musik vor seiner endgültigen Auflösung steht, wendet er sich der fernöstlichen Musik zu und bindet sie in seine Arbeit ein. Die Farbigkeit der neu entdeckten Zusammenklänge, in Verbindung mit seinem einmaligen Gespür für den Charakter der Orchesterinstrumente, wird für den Komponisten zu einem seiner wesentlichen Gestaltungsmittel. Strawinsky überwindet in dieser Phase seines Schaffens den spätromantischen Schmelzklang des Orchesters und komponiert stattdessen für ein Ensemble aus Solisten. Klar und durchsichtig baut er seine Werke auf, sodass jedes Instrument seine individuelle Klangfarbe vollkommen entfalten kann. Mit dieser künstlerischen Strategie findet Strawinsky seine ganz eigene Antwort auf die Zerfallsprozesse der europäischen Musik zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Sebastian Stüer

Maurice Ravel (1875–1937)
Klavierkonzert für die linke Hand (1929–30)

DER KOMPONIST

Maurice Ravel, geboren 1875 in Ciboure in den Pyrenäen und 1937 in Paris gestorben, gilt neben Debussy als Hauptrepräsentant des musikalischen Impressionismus. Allerdings gelangte er zu einem eigenständigen Stil, der impressionistische Klangfarben mit einer klaren Formensprache und folkloristischen Elementen unterschiedlicher Provenienz verband. Ab 1889 studierte Ravel am Pariser Conservatoire Klavier, Kontrapunkt und Komposition bei Gabriel Fauré. Im Gegensatz zu Debussy lehnte er sich gegen die althergebrachten strengen kompositorischen Normen dort aber nicht auf, sondern suchte ihnen neue Aspekte und Inhalte zu verleihen. Schon seine ersten Kompositionen zeigten dabei jene für Ravel typischen chamäleonartigen Züge der musikalischen Verfremdung, Verstellung und Überzeichnung.

Der gewitzte Komponist kokettierte sein Leben lang mit modischen Trends und Einflüssen, spielte mit den Ausdrucksmitteln eines orgiastischen Klangrausches ebenso wie mit verhaltener Sinnlichkeit, rhythmisch-melodischen Exotismen und exakt kalkulierten dynamischen Effekten. Menschlich scheu und hypersensibel, zog sich der kaum 1,60 Meter große Ravel dabei in seinen musikalischen Sujets zunehmend in die fantastische Welt der Märchen zurück – ein zauberhaftes, mystisches Reich, in dessen Schutz er die Träume eines Kindes träumte. Die reale Welt, namentlich die der tradierten musikalischen Formen, erfährt in den Spiegeln dieses »künstlichen Paradieses« zahllose reizvolle prismatische Brechungen. Ravels eigentümlich distanziert wirkende Musik besticht dabei stets durch ihre außerordentliche Bildhaftigkeit und ihre gleichermaßen große instrumentationstechnische Virtuosität.

DAS WERK

Obwohl Ravel einige der bedeutendsten Klavierkompositionen des 20. Jahrhunderts geschrieben hat, war er selbst nur ein eher mäßiger Pianist. Im Laufe seines Lebens spielte er dennoch mit dem Gedanken, ein Konzert zu schreiben, in dem er selbst als Solist auftreten würde. 1929 war er gerade aus England zurückgekehrt, wo ihm in Oxford die Ehrendoktorwürde verliehen worden war, als er mit der Arbeit an diesem Klavierkonzert begann. Fast gleichzeitig bekam er dann von dem einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein den Auftrag, ein Konzert für die linke Hand zu schreiben. Nach einer Amerika Tournee, bei der er auch die Musik Gershwins kennen lernte, arbeitete Ravel zwischen 1929 und 1931 dann an beiden Klavierkonzert-Projekten gleichzeitig; beide Notenpapierstapel, so ist überliefert, lagen immer nebeneinander auf seinem Arbeitstisch.

Der Pianist Paul Wittgenstein, Bruder des Philosophen Ludwig Wittgenstein und aus reichster, überaus kunstliebender jüdischer Familie stammend, hatte im Ersten Weltkrieg an der russischen Front den rechten Arm verloren, ein Schicksal, das seine Energie indes nur anstachelte: Er schuf sich ein Repertoire linkshändiger Klavierliteratur und vergab – dank des großzügigen Zuschnitts der familiären Verhältnisse – zahlreiche Kompositionsaufträge, u.a. an Richard Strauss, Korngold, Britten, Prokofjew, Hindemith und auch an Ravel. Im Sommer 1930 beendete Ravel das Wittgenstein-Konzert. Der Auftraggeber, dem er es vorspielte, war allerdings nicht gleich begeistert: »Erst viel später«, wie er sich erinnerte, »nachdem ich das Konzert monatelang studiert hatte, wurde ich davon fasziniert und merkte, um welch großes Werk es sich handelte.« Wittgenstein, der sich für einige Jahre die Aufführungsrechte reserviert hatte, war denn auch der Solist der Uraufführung 1932 in Wien. Dabei erlaubte sich Wittgenstein gewisse Freiheiten mit der Partitur und antwortete auf Ravels Proteste: »Interpreten sollten keine Sklaven sein.« Ravel entgegnete ihm darauf bissig: »Interpreten sind Sklaven!«

Im Gegensatz zu dem gelöst und heiter wirkenden G-Dur-Klavierkonzert erscheint das Konzert D-Dur für die linke Hand kantig, im rhythmischen Habitus wild und von düsterem Pathos geprägt. Allein der brodelnde Anfang, mit den Melodiefetzen in Kontrabass und Kontrafagott, aus dem sich dann die Eröffnungskadenz des Klaviers aufbaut, ist von einer urtümlichen Kraft, wie sie bei Ravel ansonsten nur selten zu finden ist. Die mächtige Gebärde steht dabei in paradoxem Kontrast zur tragischen Reduktion der Spieltechnik: Nach dem Orchestergemurmel und dem ersten Tutti Ausbruch greift ein Pianist mit großer Geste in die Tasten und intoniert ein kompaktes, gravitätisches Thema, und mit Entsetzen nimmt der Hörer wahr, dass es ja nur eine Hand ist, die da so mächtige Klänge hervorzaubert.

Tatsächlich erweist sich das Konzert für die linke Hand als Virtuosenstück par excellence; Ravels Fantasie entzündete sich gerade an dem verlockenden Gedanken, das Paradoxon eines einhändigen Virtuosenstücks zu wagen. So ist sein zweihändiges G-Dur-Konzert spielerisch, locker und frech, das einhändige hingegen vergrübelt, stolz und einsätzig. Die Aura des großartigen, aber einsamen Virtuosen wird beschworen und zugleich der Klaviersatz Liszts, der bekanntermaßen auch die linke Hand bevorzugte. Die Aura aber ist hier nicht einladend, sondern befremdlich und gepresst, ja von pompöser Melancholie und grandioser Verzweiflung durchdrungen.

Die einsätzige Anlage, die Ravel als Form wählte, war an sich nicht ungewöhnlich, sehr wohl aber ihre innere Dramaturgie. Das Konzert ist strikt monothematisch konzipiert und zudem völlig symmetrisch angelegt. Ein dreiteiliger Scherzo-Abschnitt ist thematisch mit dem Hauptteil verknüpft, dient als Scharnier zwischen den beiden korrespondierenden Außenteilen und ist in sich ähnlich symmetrisch gebaut wie das Verhältnis der beiden Außenteile zueinander. Denn nach dem Scherzo geht es in umgekehrter Reihenfolge mit dem Hauptteil weiter wie in einem Sog, der unwiderruflich alles verschlingt. Die große Solokadenz korrespondiert dabei mit dem Soloeingang, indem sie ihn an der Stelle weiterführt, wo er zuvor abbrach. So spannt sich der Bogen, bis gleichsam die Sehne reißt.

Der französische Pianist Henri Gil Marchex hat das Konzert für die linke Hand als das dramatischste Werk Ravels bezeichnet. Tatsächlich besteht kein Zweifel, dass es sich bei dieser Komposition um den für Ravel seltenen Fall eines persönlichen Bekenntniswerkes handelt. »Indem er es für den kriegsverstümmelten Pianisten Paul Wittgenstein schrieb«, so Ravel-Biograf Willy Tappolet, »wollte er der Tragik eines unnützen Heroismus schmerzlichen Ausdruck verleihen. Ravel war viel zu klarsehend, als dass er sich noch irgendeiner Illusion über die tatsächlichen Hintergründe des Weltkrieges hingegeben hätte. Hierin liegt die tiefe Bedeutung seines letzten sinfonischen Werkes.«

Andreas Maul

Claude Debussy (1862–1918)
La mer (1903–05)

DER KOMPONIST

Claude Debussy, geboren 1862 in Saint-Germain-en-Laye und 1918 in Paris gestorben, gilt bis heute als Hauptvertreter des musikalischen Impressionismus. Doch greift diese Charakterisierung zu kurz. Denn seine Musik gehorcht eigenen Gesetzen und weist weit über das hinaus, was eine bloße Übertragung jenes malerischen Stils des Fin de Siècle auf die Musik bedeutete. Debussy stand an der Schwelle des 20. Jahrhunderts als Vollender der »Décadence«, als Auflöser der bestehenden musikalischen Formen und Inhalte, aber letztlich auch als Schöpfer einer neuen Musikalität, die dem freien Formbewusstsein der Moderne erst den Weg bahnte.

Der Sohn kleiner Leute wollte zunächst Pianist werden. Seine akademischen Musiklehrer am Pariser Conservatoire brachte er mit seinem rebellischen Individualismus allerdings zur Verzweiflung, und schließlich entschied er sich für die Laufbahn eines Komponisten und eines streitbaren Kritikers – ab 1902 erschienen unter seinem Pseudonym »Monsieur Croche« (Herr Achtelnote) zahlreiche bedeutende musikalische Kritiken und Essays. 1888 pilgerte Debussy erstmals nach Bayreuth, nachdem er schon Jahre zuvor den »Tristan« intensiv studiert hatte. Auf der Pariser Weltausstellung 1889 hörte er ein javanisches Gamelan-Orchester. Den stärksten Eindruck aber gewann für Debussy die zeitgenössische Literatur. Er verkehrte in einschlägigen Zirkeln, nahm an den berühmten »Dienstagen« bei Stéphane Mallarmé teil, und im Austausch mit den modernen Dichtern entwickelte er seine ästhetischen Ideen. Von 1893 an arbeitete Debussy an seiner einzigen vollendeten Oper »Pelléas et Mélisande«, die 1902 uraufgeführt wurde und mit der ihm das geniale französische Gegenstück zu Wagners Musikdramen gelang.

DAS WERK

»Es schien mir bewiesen, dass die Sinfonie seit Beethoven überflüssig geworden war. Bei Schumann und Mendelssohn ist sie ohnehin nur eine respektvolle Wiederholung der gleichen Formen, mit bereits geringerer schöpferischer Kraft. Die Neunte war allerdings ein genialer Fingerzeig, ein großartiges Verlangen nach Erweiterung der Formen… Beethovens wirkliche Lehre bedeutete also nicht die Bewahrung der alten Form, noch weniger die Verpflichtung, in die Fußstapfen seiner ersten Versuche zu treten«, schrieb Claude Debussy in einem theoretischen Artikel über die »Sinfonie«.

Mit seinen drei sinfonischen Skizzen »La mer«, entstanden 1903 bis 1905, hat Debussy diesen Gedankengang in genialer Weise für sein kompositorisches Schaffen umgesetzt. Was er schuf, war ein dreisätziges Orchesterwerk, das nicht mehr das Geringste mit der Durchführungs- und Steigerungstechnik der herkömmlichen Sinfonik gemein hat und doch jenen monumentalen Aufriss besitzt, den man von einem sinfonischen Stück zu verlangen gewohnt war. Die thematische Struktur ist dichter als in jedem seiner früheren Werke, die rhythmische Struktur von einer Vielfalt, die alles übertrifft, was bisher in der Sinfonik geläufig war. Manche Stellen des ersten und zweiten Satzes entwickeln eine rhythmische Polyphonie, die die kühnen Konzeptionen der nachfolgenden französischen Komponistengeneration bereits vorwegnimmt. Und selbst im Finale, das unzweifelhaft einen dramatischen Naturvorgang musikalisch stilisieren will, dominiert der Rhythmus über die sogenannte dramatische Linienführung.

Als Theoretiker bekämpfte Debussy Naturmalerei in der Musik mit aller Schärfe. Und obwohl er sich in »La mer« der Naturmalerei als Komponist mehr nähert als in irgendeinem seiner anderen Orchesterwerke, ist er doch auch hier weit entfernt von jedem beschreibenden Naturalismus. Wohl sind die Linien kräftiger und die Farben leuchtender als früher, aber sie dienen nicht der Schilderung, sondern der musikalischen Imagination, der Beschwörung der Natur. Das reale Meer hat Debussy nicht abbilden wollen, es schuf ihm vielmehr den Anlass, eine Musik zu schreiben, die die Bewegungen des Meeres in die klanglichen Äquivalente – Klang und Rhythmus – umzusetzen versteht und zugleich selbst wie das Meer, also als naturhaftes »Bild«, erscheint.

In einem Brief an den Musikkritiker Pierre Lalo, den Sohn seines Komponistenkollegen Édouard Lalo, schrieb Claude Debussy: »Mein lieber Freund, nichts dagegen einzuwenden, dass Sie ›La mer‹ nicht mögen, und ich will mich nicht darüber beklagen. Höchstens bedauere ich es, dass Sie mich nicht verstanden haben… Sie sagen, dass Sie ›das Meer in diesen drei Sätzen weder sehen noch spüren‹! Das ist nun eine starke Behauptung, und wer will uns für ihre Richtigkeit garantieren? … Ich liebe das Meer, ich habe ihm mit der Leidenschaft und der Ehrfurcht zugehört, die es verdient. Wenn ich das, was es mir diktiert hat, schlecht übersetzt haben sollte, so geht das weder Sie noch mich etwas an. Und Sie müssen zugeben, dass nicht alle Ohren gleich hören. Im Grunde lieben und verteidigen Sie Traditionen, die für mich nicht mehr existieren.«

Die Form wurde Debussy zu einem Gebilde, das sich wie aus sich selbst heraus erzeugt und nichts anderes sein will als Ausdruck der »geheimnisvollen Übereinstimmung von Natur und Imagination«. Die Zirkulation und die Entwicklung der Themen verleihen der Komposition insgesamt jedoch eine äußerst feste Fügung. Unter den zahlreichen kompositorischen Kunstgriffen verdient die Parallelität im Schluss des ersten und dritten Satzes von »La mer« besondere Erwähnung, die mit untrüglicher Sicherheit den »heroischen Ton« trifft. Andererseits konstituiert der zweite Satz, dessen Titel schon auf die ihm verwandteste Partitur »Jeux« deutet, ein scherzoähnliches Gleichgewicht zwischen den eher dramatischen Außensätzen. In diesem zentralen Stück entfernt sich Debussy am weitesten von der Tradition des sinfonischen Genres, sowohl im Ausdruck als auch in der Gestaltungsweise, die auf kein klassisches Schema zurückzuführen ist. Die Orchestrierung markiert im Verlauf der drei Sätze dabei einen vollendeten Wechsel von Gruppen und Individualitäten; sie ist durch eine unendlich flexible Konzeption zwischen den einzelnen Instrumenten geprägt und entwickelt ein klangliches Universum, dessen Farbvaleurs ebenso neuartig waren wie ihre strukturelle Beweglichkeit.

Andreas Maul